71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
denken, daß ich über diese Verhältnisse nicht gern spreche.“
„Warum nicht? Nach deinem Auftreten muß man denken, daß du aus einem guten Hause stammst. Du hast dir in Amerika ein Vermögen ersungen. Du bist also ein Kavalier, und es kränkt dich nicht, ansehnliche Summen im Spiel zu verlieren. Deine Tänzerin kostet dich viel Geld. Du hast als Künstler Zutritt in ausgewählte Kreise erlangt, und doch sind deine Eltern auf die Unterstützung ihrer Gemeinde angewiesen. Ich begreife das nicht!“
Es war keineswegs die sittliche Entrüstung, welche dem Baron diese Worte diktierte. Er sprach so, weil er sich rächen wollte. Er hatte anhören müssen, daß man an seinem Adel, an seinen Besitztümern zweifle, daß man sogar ihn für einen Falschspieler halte. Das alles hatte der Sänger ihm mit der größten Gemütlichkeit in das Gesicht gesagt. Nun fand er Gelegenheit, ihm den Hieb zurückzugeben. Es fiel ihm gar nicht ein, daß zu versäumen. Es war ihm natürlich ganz und gar egal, ob die Eltern seines Freundes ein gutes Auskommen hatten oder ob sie hungern und darben mußten, aber er fühlte sich davon befriedigt, eine Art gelinder, moralischer Entrüstung zeigen zu können. Er hatte seine Worte in freundlich-ernstem, eindringlichem Ton gesprochen, so wie ein verständiger, älterer zu seinem leichtsinnigen, jüngeren Bruder sprechen würde.
„Ist es dir vielleicht unlieb, zu erfahren, daß ich weder dem Geburts- noch dem Geldadel entstamme?“ fragte der Sänger.
„Nein. So etwas kommt mir nicht bei. Du bist Künstler; das berechtigt dich, dich als uns ebenbürtig zu betrachten. Die Verhältnisse deiner Eltern kommen dabei natürlich in Betracht. Es ist sogar, streng genommen, eine Ehre für dich, dich aus dürftigen Verhältnissen so emporgearbeitet zu haben.“
„Das denke ich auch. Es ist mir nicht etwa leicht geworden, den Schmutz der Vergangenheit abzuschütteln, und du wirst es sehr begreiflich finden, daß ich mich so viel wie möglich dem Gedanken an die Heimat zu entziehen suche. Der Brief, welchen du mir da vorgelesen hast, ist nichts weiter als ein Bettelbrief. Ich werde den alten Leuten einige Gulden schicken. Dann haben sie ihren Zweck erreicht und sollen mich nicht weiter belästigen. Ich werde dies ihnen sehr scharf empfehlen.“
„Hm! Wenn ich mir die Fassung des Briefes vergegenwärtige, so kann er mich rühren.“
„Mich nicht!“
„Sie machen dir nicht den geringsten Vorwurf, daß du nicht an sie denkst und ein üppiges Leben führst, während sie nicht das Notwendigste haben. Sie wünschen dir Glück und Segen und hoffen auf ein baldiges, seliges Ende. Das ist wirklich rührend.“
„Redensarten! Meine Eltern haben keine Bedürfnisse. Sie sind bei trockenem Brot glücklich gewesen und können mit wenigem zufrieden sein. Sie haben gar keine Veranlassung, jetzt auf einmal höhere Ansprüche zu erheben.“
„Aber das tun sie ja auch nicht!“
„Nun, so mögen sie mich überhaupt in Ruhe lassen. Ich habe anders zu tun, als mich mit den dortigen Verhältnissen zu beschäftigen. Mein Sinn steht nach Glanz, Ruhm und Ehre. Ich mag keinerlei Berührung mit dem Schmutz meiner Heimat haben. Die Eltern haben allezeit ihre Steuern und Abgaben entrichten müssen; sie haben jederzeit gegen den Staat und die Gemeinde ihre Schuldigkeit getan, und darum haben Staat und Gemeinde nun auch die Verpflichtung, für sie zu sorgen.“
„Das ist sehr kalt gesprochen; aber mich geht es gar nichts an. Ich bin dein Beichtvater nicht und habe nicht die Pflicht, dir eine erbauliche Rede zu halten. Es war mir nur interessant, zu erfahren, daß die Wurzel deines Glücksbaums in so armen Boden ruht. Nun begreife ich freilich, welche Anstrengungen es dich gekostet haben muß, dich emporzuarbeiten. Dein Vater ist jedenfalls ein armer Handwerker gewesen?“
Der Ton, welchen der Baron jetzt anschlug, machte den Sänger williger zur Antwort.
„Noch weniger! Er war Handarbeiter. Ein Stück Brot und ein Schluck Ziegenmilch dazu, das ist fast der ganze Inhalt unserer Speisenkarte gewesen. Natürlich wurde ich zu ganz demselben Beruf erzogen.“
Er lachte dabei höhnisch auf.
„So bist du also ‚entdeckt‘ worden?“
„Ja. Ein hiesiger Professor der Musik hörte zufällig meine Stimme und nahm mich mit sich. Er bildete mich aus, soweit seine Kräfte reichten. Dann ging ich für einige Monate nach Paris, wo ich wieder ‚entdeckt‘ wurde, nämlich von dem amerikanischen Unternehmer, mit welchem ich
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