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72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen

72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen

Titel: 72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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dem Kopf.
    Das war alles elegant; aber der Träger dieses Anzugs war – der Wurzelsepp.
    Er bewegte sich in diesem Kostüm mit wirklicher Grazie, als ob er sein Lebtag in nichts anderem gesteckt hätte. Der feinste Salonmensch hätte ihm nicht das geringste Regelwidrige nachweisen können; aber er war eben der Wurzelsepp, und da verlustierte man sich über ihn.
    Endlich kam der Zug. Den feineren Coupés entstiegen fremde Berichterstatter, Dichter, Komponisten und Theateragenten, auch Theaterdirektoren, welche vielleicht hofften, hier eine Akquisition zu machen. Sie wurden von den Mitgliedern des Festausschusses begrüßt.
    Der Sepp war zu den Wagen dritter Klasse gegangen. Er sah einen grauen Kopf erscheinen. Schnell öffnete er das betreffende Coupé.
    „Ach, guten Morgen, Herr Pfarrer!“ rief er. „Guten Morgen, Kapellenbauer! Grüß Gott, Ihr Warschauersleutln! Steigt aus!“
    Sie kamen heraus, und er reichte jedem die Hand.
    Der Pfarrer ging eben wie ein Landgeistlicher. Der Bauer hatte sich aufs Feinste ausstaffiert. Seine grellrote Weste leuchtete über den ganzen Perron. Die Warschauerleute trugen ihre neuen Anzüge. Doch war ihnen auch heut die Armut und das Gedrücktsein anzusehen.
    Der Sepp winkte einen Burschen herbei.
    „Da ist der Kutscher, der euch nach der Talmühlen fahren wird“, sagte er. „Lauft mit ihm, wir sehen uns später wieder.“
    Der Bursche führte die vier fort.
    In einem Coupé hörte man eine scheltende Frauenstimme:
    „Gott, ich ersticke! Ich verbrenne vor Hitze! Ich kann nicht durch. Helft mir!“
    Das war Madame Qualèche, die frühere Gesangslehrerin der Leni.
    Diese war auch bei der Hand. Sie hatte sich seitwärts gehalten und ging so einfach gekleidet wie ein Dienstmädchen. Sie eilte herbei und brachte mit Hilfe des Sepp und dreier Schaffner die Dicke aus dem Coupé, von wo sie dieselbe sogleich auch nach einem Wagen geleitete.
    Aber in derselben Wagenabteilung hatte sich noch eine Dame befunden, welche jetzt ausstieg.
    Sie trug ein enganliegendes, graues Reisekleid, einen sehr breitrandigen Amazonenhut mit Riesenfeder. An einem über die Achsel hängenden Riemen hing eine Mappe, und in der Hand hatte sie einen Regenschirm, dessen Knauf aus einem Tintenfaß bestand.
    Diese Dame war Franza von Stauffen, die Dichterin, welche nach einem Sujet suchte. Als sie den Sepp erblickte, trat sie auf ihn zu.
    „Mein Herr“, sagte sie. „Was ist denn eigentlich hier los? Wohl eine Festlichkeit?“
    „Gewiß, gnädiges Fräulein“, antwortete er, sich verbeugend.
    „Was wohl für eine?“
    „Das wissen Sie nicht, nun, so kommen Sie heut wohl ganz zufällig nach Scheibenbad?“
    „Ja.“
    „Desto mehr werden Sie sich freuen, hier vielleicht Stoff für zehn oder zwanzig Romane zu finden.“
    „Woher wissen Sie, daß ich solche Stoffe suche?“ fragte sie erstaunt.
    „Sie sind ja Schriftstellerin.“
    „Sehen Sie mir das an?“
    „Ich würde es Ihnen ansehen, aber ich kenne Sie ja, Fräulein von Stauffen, wie auch Sie mich kennen.“
    „Ich Sie? Kann mich nicht besinnen! Wollen Sie meinem Gedächtnisse nicht ein wenig zu Hilfe kommen?“
    „Sie kennen ganz gewiß meinen Namen. Man pflegt mich den Wurzelsepp zu nennen.“
    Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn erstaunt.
    „Wie? Sie wären der Wurzelsepp?“
    „Gewiß!“
    „Ja, ja, jetzt sehe ich es. Jetzt erkenne ich Sie. Aber in dieser Salonkleidung!“
    „Ich bin avanciert.“
    „Gratuliere, aber was ist hier los?“
    „Theaterweihe.“
    „Ach! Mit Kunstgenuß?“
    „Sehr!“
    „Prächtig! Was wird gegeben?“
    „Die Oper Götterliebe.“
    „Wie? Herrlicher Titel! Ich möchte Sie küssen, Herr Sepp!“
    „Bitte, später! Nicht gleich hier auf dem Perron!“
    „Wer ist der Komponist?“
    „Der Fex.“
    „Ist's möglich? Jener famose Geiger von damals? Sie wissen ja wohl noch?“
    „Derselbe.“
    „Das ist ja ein Roman! Das ist ein Sujet. Das notiere ich mir. Ist er Direktor?“
    „Nein. Er hat das nicht nötig.“
    „Warum?“
    „Weil er Baron ist und Besitzer einer sehr bedeutenden Herrschaft.“
    „Dieser zerlumpte Bursche?“
    „Ja.“
    „Das soll man glauben?“
    „O bitte! Er war ein geraubtes Kind!“
    „Herrgott! Wieder ein Stoff! Den notiere ich mir. Herr Sepp, Sie sind ein Prachtmensch. Ich möchte Sie wirklich küssen!“
    „Das eilt nicht allzusehr, mein Fräulein!“
    „Wer ist denn der Dichter des Textes?“
    „Ein früherer Schulmeister.“
    „Früher? Was ist er

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