72 Tage in der Hoelle
und halfen uns gegenseitig, sie über einen steilen Pfad zu erklimmen. Von oben blickten wir hinunter auf eine Wiese mit dichtem Gras. Dort standen Bäume und Wildblumen, und zu unserer Linken sahen wir die niedrigen Mauern der Viehgehege eines Bergbauern.Wir befanden uns jetzt hoch über dem Flusstal, und das Gelände fiel steil zum Ufer des Wasserlaufes ab. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses, der an dieser Stelle etwa 35 Meter breit war und mit reißender Kraft dahinströmte, stieg das Gelände wiederum steil an. Roberto konnte kaum noch gehen. Also half ich ihm, sich über die Wiese zu einer kleinen Baumgruppe zu schleppen. Wir entschlossen uns, dort unser Lager aufzuschlagen.
»Du ruhst dich jetzt aus«, sagte ich. »Ich sehe mir ein bisschen die Gegend an. Vielleicht ist irgendwo in der Nähe ein Bauernhaus.«
Roberto nickte. Er hatte kaum noch Kraft zum Sprechen, und als er sich schwer auf das weiche Gras fallen ließ, wusste ich genau, dass er keinen Schritt mehr weitergehen würde. Ich mochte nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn ich ihn zurücklassen musste.
Im schwindenden Licht des Nachmittags folgte ich dem gewundenen Flusstal. Ich wollte wissen, wohin es führte. An den grasbewachsenen Abhängen weideten Kühe, was meine Hoffnung steigen ließ, aber nachdem ich rund dreihundert Meter gegangen war, sah ich genau das, was ich befürchtet hatte: Von links kam ein anderer breiter, reißender Fluss und vereinigte sich mit dem Wasserlauf, dem wir gefolgt waren. Der Zusammenfluss der beiden Gewässer versperrte uns den Weg. Dass wir einen davon überqueren könnten, erschien unmöglich. Wenn nicht ein Wunder geschah, waren wir am Ende der Wanderung angelangt.
Als ich wieder bei Roberto war, erzählte ich ihm von dem zweiten Fluss und den Tieren.Wir hatten beide großen Hunger. Das wenige Fleisch, das wir noch besaßen, war bei dem warmen Wetter schlecht geworden. Eine Zeit lang spielten wir mit dem Gedanken, eine der Kühe zu schlachten und zu essen, aber Roberto machte mich darauf aufmerksam, dass so etwas der Bereitschaft ihres Besitzers, uns zu helfen, nicht gerade dienlich war. Ohnehin stand zu bezweifeln, dass wir gemeinsam die Kraft aufbringen würden, ein so großes Tier zu fangen und gefügig zu machen, und so gaben wir die Idee schnell wieder auf. Allmählich brach die Dunkelheit herein, und es wurde kälter.
»Ich gehe Brennholz suchen«, sagte ich, aber ich war erst ein paar Schritte über die Wiese gegangen, da hörte ich Roberto rufen.
»Nando, ich sehe einen Mann!«
»Was?Was hast du gesagt?«
» Da! Sieh doch! Ein Mann auf einem Pferd! «
Roberto deutete auf die Böschung auf der anderen Seite des Flusstals. Ich blinzelte in der Abenddämmerung.
»Ich sehe nichts.«
» Geh! Lauf! «, schrie Roberto. »Geh zum Fluss runter!«
Blind stolperte ich den Abhang hinunter zum Wasser, während Roberto mir die Richtung angab. » Rechts, nein, rechts habe ich gesagt! Nicht so weit! Jetzt nach links! «
Robertos Anweisungen folgend, lief ich im Zickzack die Böschung hinunter, aber von einem Mann auf einem Pferd sah ich keine Spur. Als ich mich umdrehte, sah ich Roberto hinter mir den Abhang heruntertorkeln.
»Ich schwöre, ich habe etwas gesehen!«, sagte er.
»Da drüben ist es ganz schön dunkel«, erwiderte ich. »Vielleicht war es der Schatten von einem Felsen.« Ich nahm Roberto am Arm und half ihm, wieder hinauf zu unserem Lagerplatz zu steigen, aber dann hörten wir über das Rauschen des Flusses hinweg den unverkennbaren Klang einer menschlichen Stimme. Wir wirbelten herum, und dieses Mal sah ich ihn auch, den Reiter. Er rief uns etwas zu, aber seine Worte wurden zum größten Teil durch den Lärm des Flusses verschluckt. Dann wendete er sein Pferd und verschwand in der Dunkelheit.
»Hast du ihn verstanden?«, fragte Roberto. »Was hat er gesagt?«
»Ich habe nur ein Wort gehört«, erwiderte ich. »Er hat mañana gesagt.«
»Wir sind gerettet«, meinte Roberto.
Ich stützte ihn auf dem Weg zum Lagerplatz, dann machte ich ein Lagerfeuer, und wir legten uns schlafen. Zum ersten Mal seit dem Absturz keimte echte Hoffnung in mir auf. Ich würde am Leben bleiben. Ich würde meinen Vater wiedersehen, da war ich jetzt ganz sicher. Aber jetzt richtete sich meine Besorgnis auf die anderen, die wir zurückgelassen hatten. Besessen von meinem eigenen Überlebenswillen, hatte ich kaum an sie gedacht, seit wir die Absturzstelle vor neun Tagen verlassen
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