72 Tage in der Hoelle
Bewusstsein hätten, würden sie von uns nicht einmal Notiz nehmen, so schnell ist unser Leben vorüber. Andererseits fand ich es bemerkenswert, dass nicht einmal diese Berge ewig erhalten bleiben. Wenn die Erde lange genug besteht, werden alle Gipfel eines Tages zu Staub zerfallen. Welche Bedeutung hat da schon ein einzelnes Menschenleben? Warum mühen wir uns ab? Warum erdulden wir solche Leiden und Schmerzen? Was lässt uns so verzweifelt ums Überleben kämpfen? Wir könnten uns doch auch einfach unterwerfen, in Stille und Schatten versinken und wissen, dass dort Frieden ist.
Auf solche Fragen hatte ich keine Antworten, aber wenn sie für mich zu quälend wurden oder wenn ich glaubte, endgültig an den Grenzen meiner Kraft angelangt zu sein, rief ich mir ins Gedächtnis, was ich meinem Vater versprochen hatte. Wie er es damals auf dem Fluss in Argentinien getan hatte, so entschloss auch ich mich, noch ein wenig länger zu leiden. Ich tat noch einen Schritt, dann noch einen und sagte mir, dass jeder davon mich näher zu meinem Vater brachte, dass ich jeden Schritt, den ich tat, dem Tod gestohlen hatte.
Irgendwann am Nachmittag des 18. Dezember hörte ich vor uns in der Ferne ein Geräusch – ein dumpfes Rauschen, das beim Näherkommen lauter wurde. Kurz darauf erkannte ich, dass es sich um fließendes Wasser handeln musste. Wir stolperten immer noch über unebene Schnee- und Geröllfelder, aber ich beschleunigte meinen Schritt. Insgeheim hatte ich entsetzliche Angst, das Geräusch könne von einem unüberwindlichen Strom stammen, der uns von der Außenwelt abschnitt und unser Schicksal endgültig besiegelte. Ich stieg eine sanfte Böschung hinunter und ließ mich dann über eine kleine vereiste Felswand hinab. Vor mir erhob sich ein riesiger Berg. Das Tal, dem wir gefolgt waren, führte bis zu seinem Fuß und endete dort, aber zwei kleinere Täler zweigten davon ab und schlängelten sich beiderseits des Berges in die Ferne.
Das ist die Gabelung, die wir vom Gipfel aus gesehen haben , dachte ich. Wir sind auf dem richtigen Weg, wir müssen nur durchhalten.
Ich wandte mich nach links, umrundete die kurze, vereiste Klippe und näherte mich dem rätselhaften Lärm. Als ich um den Felsen bog, stand ich vor einer rund fünf Meter hohen Eiswand. Aus ihr schoss ungefähr eineinhalb Meter über dem Boden durch eine große Spalte ein dicker, von vielen Tonnen geschmolzenen Schnees gespeister Wasserstrahl. Das Wasser traf zu meinen Füßen spritzend auf den Boden und floss dann sanft über Eis und Geröll in das vor uns liegende Tal. Das Gelände schien hier nur sanft abzufallen, aber das Gefälle reichte aus, um dem Wasser eine starke Strömung zu verleihen, und in einigen hundert Metern Entfernung konnte ich eine Stelle erkennen, wo das herabstürzende Schmelzwasser einen breiten, kräftigen Bach bildete.
»Hier wird ein Fluss geboren«, sagte ich zu Roberto, als er mich eingeholt hatte. »Er wird uns hier herausführen.« Wir marschierten an dem Bach entlang weiter und waren jetzt sicher, dass er uns durch das Hochland irgendwann an einen zivilisierten Ort führen würde. Lose Steine, Schnee und hartnäckige graue Eisflächen wechselten sich ab. Dann plötzlich endete die Schneedecke, als wären wir an der Kante eines Teppichs angelangt, und wir wanderten endlich über trockenen Boden. Aber das Gehen war hier nicht einfacher als auf den Schneefeldern: Die Ebenen beiderseits des Baches waren von Felsbrocken übersät, viele davon größer als ein Menschenkopf; wir mussten entweder zwischen ihnen unseren Weg suchen oder sie besteigen und dann von einem wackeligen Stein zum nächsten springen. Wir brauchten Stunden, um die Geröllfelder hinter uns zu bringen, aber schließlich wurde das Gelände ebener, und wir wanderten über einen einfacheren Untergrund aus losen Steinen, Kieseln und Schnee. Der Fluss neben uns wurde mit jedem Kilometer breiter und kräftiger, bis sein Dröhnen alle anderen Geräusche erstickte. Ich befand mich wie immer in einem Trancezustand, lebte von einem mühsamen Schritt zum nächsten, und während die Kilometer vorüberkrochen, reduzierte sich mein Dasein, mein Universum , auf das kleine Stück schwierigen Felsgeländes, auf das ich als Nächstes meinen Fuß setzte.
An diesem Tag marschierten wir bis zum Sonnenuntergang. Als wir uns schließlich ausruhten, zeigte Roberto mir einen Stein, den er unterwegs aufgelesen hatte.
»Den nehme ich als Andenken für Laura mit«, sagte er.
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