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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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zu begreifen, dass nur die Liebe uns zu Menschen macht. Ich bemühe mich, ein treuer, verständnisvoller Freund zu sein. Ich liebe meine Kinder von ganzem Herzen. Und für meine Frau empfinde ich eine Liebe, die mein Leben mit Sinn und Freude erfüllt hat. Ich habe viel verloren und wiederbekommen, aber was das Leben mir auch gibt oder nimmt, mein Dasein wird immer von einer einfachen Weisheit erleuchtet werden: Ich habe geliebt – leidenschaftlich, furchtlos, mit ganzem Herzen und ganzer Seele, und ich wurde geliebt. Mehr brauche ich nicht.
     
     
    Zwei Jahre nach dem Wunder im Gebirge fuhr ich mit meinem Vater noch einmal zu der Absturzstelle in den Hochanden, nicht weit vom Cerro Sosneado. Man hatte eine nur im Sommer passierbare Route ausfindig gemacht, die aus dem argentinischen Vorgebirge zu dem Gletscher mit der Fairchild führte. Die anstrengende dreitägige Reise beginnt mit einer achtstündigen Fahrt im Allradfahrzeug durch das zerklüftete Gelände der argentinischen Vorgebirge, dann folgen zweieinhalb Tage zu Pferd. Wir durchquerten einen reißenden Wasserlauf und ritten dann auf speziell ausgebildeten Andenpferden über steile, schmale Pfade, die an haarsträubend steilen Abhängen ins Gebirge hinaufführten. Gegen Mittag erreichten wir den Fuß des Gletschers, dann stiegen wir zu Fuß das letzte Stück bis zur Grabstelle hoch. Das Grab selbst hatten Luftwaffenangehörige aus Uruguay und Chile unmittelbar nach unserer Rettung errichtet. Es befindet sich auf einem Felsvorsprung. Unter den Steinen liegen Susy und meine Mutter sowie die Überreste der anderen, die hier ums Leben gekommen sind. Alle befinden sich in sicherer Entfernung von dem zerstörerischen, nur wenige hundert Meter entfernten Gletscher. Es ist ein einfaches Denkmal: Über dem Grab erhebt sich nur ein Steinhaufen mit einem kleinen Kreuz aus Stahl auf der Spitze. Mein Vater hatte Blumen mitgebracht, und in einer Schachtel aus rostfreiem Stahl lag der Teddy, den Susy jede Nacht mit ins Bett genommen hatte. Er legte die Geschenke auf das Grab, dann standen wir schweigend in der Stille der Berge. An diese Stille, dieses völlige Fehlen von Geräuschen, konnte ich mich nur allzu gut erinnern. An windstillen Tagen hört man nichts außer dem eigenen Atem, den eigenen Gedanken. Mein Vater war blass, und Tränen liefen über seine Wangen, als wir gemeinsam dieses traurige Wiedersehen erlebten, aber ich empfand weder Schmerz noch Trauer. Ich spürte, welche Ruhe über diesem Ort lag. Hier gab es keine Angst mehr, kein Leiden, keine Qualen. Die Toten hatten ihren Frieden. Die reine, völlige Stille war in die Berge zurückgekehrt.
    Es war ein heller, klarer Frühlingstag. Mit einem traurigen Lächeln wandte sich mein Vater zu mir. Er sah den Gletscher an, die schwarzen Gipfel über uns, den weiten, wilden Himmel der Anden, und versuchte ganz offensichtlich, sich diesen Ort in den kalten Monaten des Vorfrühlings vorzustellen. Er starrte auf die Überreste des Flugzeugrumpfes. Sah er die jungen Männer, die sich darin zusammengedrängt hatten? Verängstigte Gesichter in Dunkelheit und Kälte, die auf das Heulen des Windes und das Rumpeln weit entfernter Lawinen lauschten und sich auf nichts verlassen konnten außer auf sich selbst? Malte er sich aus, wie ich an diesem schrecklichen Ort war, voller Furcht, entsetzlich weit weg von zu Hause, wie ich nur noch bei ihm sein wollte? Mein Vater sagte es nicht. Er lächelte nur zärtlich, nahm mich beim Arm und flüsterte: »Nando, jetzt verstehe ich...«
    Wir blieben ungefähr eine Stunde an der Begräbnisstätte, dann machten wir uns auf den Rückweg zu den Pferden. Nie kamen wir auch nur für eine Sekunde auf die Idee, die Leichen unserer Angehörigen auf einen Friedhof in der zivilisierten Welt zu überführen. Als wir vom Berg abstiegen, war die Großartigkeit der Anden – der schweigenden, riesigen, vollkommenen Anden – derart mit Händen zu greifen, dass wir uns keine majestätischere Gruft vorstellen konnten.

EPILOG
     
    Seit über dreißig Jahren treffen sich die Überlebenden der Anden-Katastrophe jedes Jahr am 22. Dezember und gedenken des Tages, an dem wir aus dem Gebirge gerettet wurden. Wir feiern dieses Datum als unseren gemeinsamen Geburtstag, denn wir alle wurden an diesem Tag neugeboren. Aber uns wurde dabei mehr als nur das Leben geschenkt. Alle kamen mit einer neuen Denkweise zurück, mit größerem Respekt vor der Kraft des menschlichen Geistes und mit der Einsicht, dass es –

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