72 Tage in der Hoelle
wurden wir mit Erfolgen belohnt. Aber der bei weitem größte Segen in unserem Leben war die Geburt unserer beiden Töchter.
Veronica kam 1981 zur Welt. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, ich könne keinen Menschen so sehr lieben wie meine Frau, aber als ich der Kleinen ins Gesicht sah, machte mich meine Liebe zu ihr völlig sprachlos. Schon wenige Augenblicke nach ihrer Geburt war sie zu einem weiteren großen Schatz in meinem Leben geworden, und ich wusste, dass ich, ohne zu zögern, mein Leben für sie hingeben würde. Von Anfang an genoss ich die Vaterschaft in jedem Augenblick. Es machte mir Spaß, sie zu wickeln, zu füttern, zu baden und ins Bett zu bringen. Manchmal hielt ich sie, verblüfft von der Schönheit und Vollkommenheit ihres kleinen Körpers, auf den Armen, und dann kam mir der Gedanke, dass dieser kleine Mensch nicht existieren würde, wenn ich damals nicht den Weg aus den Anden gefunden hätte. Ganz plötzlich spürte ich ein verwirren des Gefühl der Dankbarkeit für die reichen Freuden meines Lebens – es hatte mir so viel Liebe und Glück geschenkt – und mir wurde klar, dass jeder grausige Schritt, den ich in jener gottverlassenen Wildnis getan hatte, ein Schritt in Richtung dieses winzigen, kostbaren Wunders hier in meinen Armen war.
Zweieinhalb Jahre später wurde meine Tochter Cecilia nach einer Schwangerschaft von nur fünfeinhalb Monaten geboren. Sie wog nur etwas über 1000 Gramm und verbrachte die beiden ersten Lebensmonate auf der Intensivstation. In mehr als einer Nacht erklärten uns die Ärzte, wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen, wir sollten nach Hause gehen und beten, und jede dieser Nächte war für mich wie ein neues Martyrium in den Anden. Aber Veronique war jeden Tag viele Stunden im Krankenhaus, streichelte unser Baby, sprach leise mit ihm, holte es zurück ins Leben, und ganz allmählich wurde Cecilia kräftiger. Heute sind meine beiden Töchter hübsche junge Frauen Anfang zwanzig, voller Leben und Energie, bereit, selbst der Welt gegenüberzutreten.
Während sie ihr Leben noch vor sich haben, geht mein Vater bei bester körperlicher und geistiger Gesundheit in sein achtundachtzigstes Lebensjahr.Welche Nähe zwischen uns besteht, lässt sich unmöglich beschreiben. In den vielen Jahren seit der Katastrophe in den Anden ist er für mich zu mehr als nur einem Vater geworden; er ist auch mein engster und vertrautester Freund. Uns verbindet die Trauer um die Toten, aber auch gro ßer gegenseitiger Respekt und natürlich innige, unerschütterliche Liebe. Ich weiß nicht, ob mein Vater jemals begriffen hat, wie wichtig er in der Einsamkeit der Berge für mich war. Nie werde ich vergessen, was er kurz nach meiner Rückkehr aus den Anden zu mir sagte: »Ich hatte alles so schön geplant, Nando. Für dich, Mami und Susy und Graciela. Es war für alles gesorgt. Ich hatte die Geschichte eures Lebens geschrieben wie in einem Buch. Aber dass so etwas geschieht, damit hatte ich nicht gerechnet. Dieses Kapitel habe ich nicht verfasst.«
Ich begriff, dass er sich damit entschuldigen wollte.Trotz aller Bemühungen um Sicherheit und Glück hatte er uns nicht schützen können, und irgendwo in ihm nagte der Gedanke, dass er uns im Stich gelassen hatte. Dieses Buch wollte ich schreiben, um ihm zu sagen, dass das nicht stimmt. Er hat mich nicht allein gelassen. Er hat mir das Leben gerettet. Er hat mich gerettet, indem er mir Geschichten erzählte, als ich klein war, sodass ich daraus in den Bergen Kraft schöpfen konnte. Er hat mich gerettet, indem er so hart arbeitete, indem er niemals aufgab und indem er mich durch sein Vorbild lehrte, dass man alles erreichen kann, wenn man bereit ist, zu leiden. Vor allem aber hat er mich mit seiner Liebe gerettet. Er zeigte seine Zuneigung nie offen, und doch hatte ich als Junge nie einen Zweifel an seiner Liebe. Es war eine stille Liebe, aber sie war fest und tief und dauerhaft. Als ich in den Bergen war, gestrandet in den Schatten des Todes, verband mich diese Liebe wie eine Rettungsleine mit der Welt der Lebenden. Solange ich an dieser Liebe festhielt, war ich nicht verloren, ich war mit meinem Zuhause und meiner Zukunft verbunden, und am Ende war es dieses starke Band der Liebe, das mich aus der Gefahrenzone führte. Als mein Vater glaubte, wir seien alle tot, verzweifelte er, und in seinem Schmerz gab er die Hoffnung für uns auf. Aber diese Hoffnung brauchte ich nicht. Er rettete mich einfach dadurch, dass er der Vater war, den
Weitere Kostenlose Bücher