72 Tage in der Hoelle
für uns wie für jeden Menschen – ein Wunder ist, am Leben zu sein. Das Geschenk, das die Anden uns mitgaben, ist die Fähigkeit, ganz bewusst zu leben und jeden Augenblick dankbar zu genießen. Ein Außenstehender bemerkt vielleicht nicht, mit welcher besonderen Wärme meine Freunde ihre Frauen umarmen oder wie zärtlich sie zu ihren Kindern sind, aber mir fällt es auf, denn wie sie weiß ich, dass solche Dinge ein Wunder sind. Nachdem man uns aus dem Gebirge gerettet hatte, sprachen die Zeitungen vom »Wunder der Anden«. Für mich besteht das wahre Wunder darin, dass wir durch die lange Zeit im Schatten des Todes auf höchst lebhafte und prägende Weise gelernt haben, was es heißt, am Leben zu sein. Dieses Wissen verbindet uns alle. Zwar gibt es bei uns wie immer unter Freunden auch Konflikte und Missverständnisse, und der Lebensweg hat manche weit vom heimatlichen Montevideo weggeführt, aber dass diese Bande zerbrechen, werden wir niemals zulassen.
Noch heute, über drei Jahrzehnte nach der Katastrophe, sehe ich in allen diesen Männern meine Brüder. Aber keiner von ihnen war ein besserer Bruder als Roberto Canessa, mein Partner auf der langen Wanderung durch die Anden. Als wir bereits mehrere Tage unterwegs waren, in dem kargen Gelände immer schwächer wurden und mit jedem Schritt mehr die Hoffnung verloren, zeigte Roberto auf seinen auffälligen Gürtel. Ich erkannte, dass er Panchito gehört hatte. »Ich trage den Gürtel, den dein bester Freund getragen hat«, sagte er, »und jetzt bin ich dein bester Freund.«
In jenem Augenblick vertraute keiner von uns beiden darauf, dass es für uns noch eine Zukunft gab, aber es gab sie, und drei ßig Jahre später kann ich voller Stolz sagen: Roberto ist immer noch mein bester Freund. Er ist im Laufe der Zeit nachdenklicher, selbstbewusster und, ja, auch dickköpfiger geworden. Mit diesen Eigenschaften hat er es zu einem der angesehensten Kinderkardiologen in Uruguay gebracht, und sie verschafften ihm den Ruf eines Mannes, dessen Kenntnisse und Fähigkeiten nur von seiner wilden Entschlossenheit übertroffen werden, seinen kleinen Patienten zu helfen. Die meisten Kinder, die Roberto behandelt, sind schwer krank, und wer ihn kennt, wundert sich nicht darüber, dass er alles daransetzt, ihnen zu helfen. Einmal erzählte ihm beispielsweise ein guter Freund, der in New York eine kardiologische Station leitete, dass es in seiner Klinik einen nicht mehr benötigten Doppler-Sonografen gab. Er bot Roberto das Gerät an, allerdings unter der Bedingung, dass dieser für den Transport nach Uruguay sorgte. Roberto wusste genau, dass der Apparat für die Therapie seiner Patienten sehr nützlich wäre, und ebenso war ihm klar, dass das Krankenhaus in Montevideo sich derart teure Medizintechnik nicht leisten konnte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hatte er seinen Entschluss gefasst, und vierundzwanzig Stunden später übernahm Roberto in New York das Gerät mit allem Zubehör. Für den Transport hatte er weder einen fertigen Plan noch irgendwelche Helfer. Also lud Roberto die sperrige Maschine – sie war ungefähr so groß wie ein kleiner Kühlschrank – auf einen Handwagen, den er sich von der technischen Abteilung der Klinik geliehen hatte, und schob ihn zum Aufzug.Wenig später stand er auf einem belebten Bürgersteig und versuchte, Lastwagen anzuhalten. Lange Zeit stand er dort und winkte, während der Verkehr an ihm vorüberrauschte. Anfangs schien ihn niemand zu bemerken, aber irgendwann machte er den Fahrer eines Lieferwagens auf sich aufmerksam, und der erklärte sich bereit, Roberto und das Gerät gegen Bezahlung zum John-F.-Kennedy-Flughafen zu bringen.
Auf weitere Schwierigkeiten stieß Roberto, als er in Montevideo eintraf: Dort wollten haarspalterische Zollbeamte den Apparat nicht ins Land lassen. Aber Roberto ließ sich natürlich nicht abweisen. Er winkte sich ein Taxi heran und ließ sich unmittelbar zum Sitz des Präsidenten von Uruguay bringen; dort verlangte er,beim Staatsoberhaupt vorgelassen zu werden.Unglaublich, aber wahr: Man gab seinem Ansinnen statt, und nachdem er dem Präsidenten sein Problem erläutert hatte, erhielten die Beamten am Flughafen die Anweisung, die Zollmarken zu entfernen und den Import des Doppler-Sonografen zu gestatten. Roberto organisierte den Transport in sein Krankenhaus, wo die Maschine sofort in Betrieb genommen wurde. Keine achtundvierzig Stunden nach dem Telefonat lief das Gerät wieder und rettete Kindern in
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