Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
Vom Netzwerk:
erfülle mich immer stärker und tiefer mit Leben.
     
     
    In den Jahren seit der Katastrophe denke ich oft an meinen Freund Arturo Nogueira und an unsere Gespräche in den Bergen über Gott.Viele andere Überlebende sagen heute, sie hätten dort im Gebirge die Gegenwart Gottes persönlich gespürt. Mit Seiner Gnade, so glauben sie, gestattete Er uns zu überleben, Er erhörte unsere Gebete, und nach ihrer Überzeugung führte Seine Hand uns nach Hause. Ich habe tiefen Respekt vor dem Glauben meiner Freunde, aber um ehrlich zu sein: So inbrünstig ich in den Anden auch um ein Wunder betete, die persönliche Gegenwart Gottes habe ich nie bemerkt. Zumindest habe ich Gott nicht so erlebt wie die meisten anderen Menschen. Ich spürte etwas, das größer war als ich selbst – irgendetwas in den Bergen, den Gletschern und dem leuchtenden Himmel gab mir in seltenen Augenblicken Sicherheit und ließ mich spüren, dass die Welt geordnet, liebevoll und gut ist. Wenn das Gott war, dann war Er es nicht als eine Art Geist oder allmächtige, übermenschliche Macht. Es war kein Gott, der entscheiden konnte, ob er uns rettet oder zugrunde gehen lässt, oder der irgendetwas hätte ändern können. Es war einfach ein Schweigen, eine Ganzheit, eine Ehrfurcht gebietende Einfachheit. Es war, als gelangte sie durch mein eigenes Gefühl der Liebe zu mir, und mir kam oft der Gedanke, dass das, was wir Liebe nennen, in Wirklichkeit das Gefühl der Verbundenheit mit diesem Ehrfurcht gebietenden Etwas ist. Ich behaupte nicht, ich wüsste, was es ist oder was es von mir will. Ich will solche Dinge nicht verstehen. Ich habe kein Interesse an einem Gott, den man verstehen kann , der zu uns aus diesem oder jenem heiligen Buch spricht und der mit unserem Leben nach irgendeinem göttlichen Plan herumspielt, als wären wir Figuren in einem Theaterstück. Wie kann ich einen Sinn in einem Gott finden, der einen Glauben über alle anderen stellt, der ein Gebet erhört und ein anderes ignoriert, der sechzehn junge Männer nach Hause schickt und mindestens neunundzwanzig weitere auf dem Berg sterben lässt?
    Es gab einmal eine Zeit, da wollte ich diesen Gott kennen lernen, aber heute ist mir klar, dass ich damit in Wirklichkeit den Trost der Sicherheit suchte, das Wissen, dass mein Gott der wirkliche Gott ist und dass Er mich am Ende für meinen Glauben belohnen wird. Heute habe ich begriffen, dass man niemals sicher sein kann – weder im Zusammenhang mit Gott noch in allem anderen. Ich habe nicht das Bedürfnis, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Als Arturo im Sterben lag, sagte er mir in unseren unvergesslichen Gesprächen, dass man am besten zum Glauben findet, wenn man den Mut zum Zweifel hat. An diese Worte erinnere ich mich jeden Tag, und ich zweifle und hoffe, dass ich auf diese unbeholfene Weise meinen Weg zur Wahrheit finde. Immer noch spreche ich die Gebete, die ich als Kind gelernt habe – die Ave-Marias und Vaterunser -, aber dabei stelle ich mir keinen weisen, himmlischen Vater mehr vor, der am anderen Ende der Leitung sitzt und geduldig zuhört. Stattdessen sehe ich die Liebe vor mir, ein Meer der Liebe, den Quell der Liebe, und ich male mir aus, wie ich damit verschmelze. Ich öffne mich für sie, versuche, die Woge der Liebe in Richtung der Menschen zu lenken, die mir nahestehen, hoffe, sie zu schützen, sie an mich zu binden und uns alle mit dem zu verknüpfen, was in der Welt ewig ist. Das ist für mich eine sehr private Angelegenheit, und ich versuche nicht zu analysieren, was es bedeutet. Es gefällt mir einfach, wie ich mich dabei fühle. Wenn ich so bete, spüre ich eine Verbindung zu etwas Gutem, Ganzem, Mächtigem. In den Bergen war es die Liebe, die mich am Leben erhielt. Mut oder Klugheit hätten mich nicht gerettet. Ich konnte auf keinerlei Sachverstand zurückgreifen, sondern ausschließlich auf mein Vertrauen in die Liebe zu meinem Vater und in meine Zukunft, und dieses Vertrauen führte mich nach Hause. Seither hat es dazu beigetragen, dass ich besser verstehe, wer ich bin und was es heißt, ein Mensch zu sein. Heute lautet meine feste Überzeugung: Wenn es im Universum etwas Göttliches gibt, finde ich es nur auf dem Weg über die Liebe zu meiner Familie und meinen Freunden sowie durch das einfache Wunder, dass ich am Leben bin. Eine andere Weisheit oder Philosophie brauche ich nicht: Es ist meine Pflicht, meine Zeit auf Erden mit so viel Leben wie möglich auszufüllen, jeden Tag ein wenig menschlicher zu werden und

Weitere Kostenlose Bücher