72 Tage in der Hoelle
ich lieb habe.
Als die anderen Überlebenden und ich aus den Bergen zurückkamen, machten unsere Eltern und Lehrer sich anfangs Sorgen, wir hätten durch unsere schrecklichen Erlebnisse bleibende Schäden davongetragen. Deshalb wurden wir gebeten, einen Therapeuten aufzusuchen. Wir lehnten geschlossen ab. Wir konnten uns unserer gegenseitigen Unterstützung sicher sein, und für mich war das immer genug. Aber noch heute sind Menschen neugierig auf die psychologischen Folgen eines solchen Martyriums, und ich werde häufig gefragt, wie ich mit dem Trauma fertig geworden bin. Ob ich an Albträumen leide? An Erinnerungsbildern? Hatte ich mit den Schuldgefühlen des Überlebenden zu kämpfen? Solche Menschen sind immer überrascht und manchmal wohl auch misstrauisch, wenn ich ihnen sage, dass ich nichts davon erlebt habe. Ich habe seit der Katastrophe ein glückliches Leben geführt. Ich hege weder Schuldgefühle noch Groll. Ich blicke in die Zukunft und rechne stets damit, dass es eine gute Zukunft sein wird.
»Aber wie ist das möglich?«, fragen sie dann oft. »Wie können Sie nach allem, was Sie durchgemacht haben, inneren Frieden finden?« Darauf erwidere ich, dass ich meinen inneren Frieden nicht trotz dieser Erfahrung, sondern durch diese Erfahrung gefunden habe. Die Anden, so erkläre ich dann, haben mir so vieles genommen, aber sie haben mir auch eine einfache Erkenntnis gegeben, die mich befreit und mein Leben erleuchtet hat: Der Tod ist real, und der Tod ist sehr nahe .
In den Bergen gab es keine Minute, in der ich nicht den Tod an meiner Seite gespürt hätte, doch wirklich real wurde er für mich erst in dem Augenblick, als ich auf dem Berggipfel stand und nur hohe Gipfel sah, so weit das Auge reichte. Die Gewissheit des Todes nahm mir den Atem, aber gleichzeitig brannte der Lebenswille in mir heller als je zuvor, und ich spürte trotz der völligen Hoffnungslosigkeit eine Welle der Freude. Der Tod war so übermächtig, dass er kurzzeitig alles Unwichtige verschwinden ließ. Der Tod hatte mir sein düsteres, räuberisches, unbesiegbares Antlitz gezeigt, und für den Bruchteil einer Sekunde war mir, als sei der Tod hinter der ganzen zerbrechlichen Illusion des Lebens das Einzige, was existiert. Aber dann erkannte ich, dass es auf der Welt etwas gibt, das nicht Tod ist, das ebenso Ehrfurcht gebietend, dauerhaft und tiefgreifend ist wie er. Dieses Etwas ist die Liebe, die Liebe in meinem Herzen, und als ich diese Liebe – Liebe für meinen Vater, für meine Zukunft, für das einfache Wunder, dass ich am Leben war – in mir aufwallen spürte, verlor der Tod für einen kurzen, unbegreiflichen Augenblick seine Macht. In diesem Augenblick lief ich nicht mehr vor dem Tod davon. Stattdessen machte ich einen Schritt nach dem anderen in Richtung der Liebe, und das rettete mir das Leben. Seitdem habe ich nie mehr aufgehört, nach der Liebe zu streben. Ich wurde im Leben mit materiellem Erfolg gesegnet. Ich liebe schnelle Autos, guten Wein und feines Essen. Ich reise gern. Ich habe ein schönes Haus in Montevideo und ein zweites am Meer. Ich bin überzeugt, dass man das Leben genießen sollte, aber meine Erfahrung hat mich eines gelehrt: Ohne die Liebe meiner Familie und meiner Freunde hätten alle Verlockungen des irdischen Erfolges einen hohlen Klang. Ebenso weiß ich, dass ich auch dann glücklich wäre, wenn alle diese Verlockungen von mir genommen würden – vorausgesetzt, ich bin den Menschen nahe, die ich liebe.
Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen etwas Ähnliches über sich sagen würden. Für mich steht jedoch fest:Wenn ich nicht so gelitten hätte, wenn ich dem Tod nicht hätte ins Gesicht sehen müssen, wüsste ich die einfachen, kostbaren Freuden des Lebens nicht so zu schätzen. Jeder Tag hat so viele vollkommene Augenblicke, von denen ich keinen einzigen entbehren möchte – das Lächeln meiner Töchter, die Umarmung meiner Frau, ein sabbernder Willkommensgruß meines neuen Hundes, die Gesellschaft eines alten Freundes, das Gefühl des warmen Sandstrandes unter meinen Füßen, die warme Sonne Uruguays auf meinem Gesicht. Solche Augenblicke lassen für mich die Zeit stillstehen. Ich genieße sie, lasse jeden einzelnen zu einer kleinen Ewigkeit werden, und indem ich diese kleinen Glücksmomente meines Lebens auskoste, trotze ich dem Schatten des Todes, der über uns allen schwebt. Ich bestätige immer aufs Neue meine Liebe und Dankbarkeit für alles, was mir geschenkt wurde, und
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