72 Tage in der Hoelle
sterben würde. Wie durch ein Wunder stand er immer noch, als die Maschine in die Schneeverwehung raste und plötzlich zum Stillstand kam.
Es stimmt also , dachte er, man kann noch denken, nachdem man tot ist . Dann öffnete er die Augen. Als er vor sich das Wrack sah, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück und versank sofort bis zu den Hüften im Schnee. Dann blickte er auf, erkannte die gezackte Bruchkante an der Stelle, wo der Schwanz vom Rumpf abgebrochen war, und begriff, dass alle und alles hinter ihm verschwunden war. Der Fußboden des Rumpfes befand sich jetzt auf der Höhe seiner Brust, und als er sich wieder ins Flugzeug zog, musste er über den bewegungslosen Körper einer Frau mittleren Alters klettern. Ihr Gesicht war voller Blutergüsse und mit Blut verkrustet, aber er erkannte meine Mutter. Gustavo, Medizinstudent im ersten Studienjahr, bückte sich und fühlte ihren Puls, aber sie war schon tot.
Gustavo begab sich im Rumpf nach vorn zu dem Haufen mit den Sitzen. Er hob einen Sitz herunter und fand darunter Roberto Canessa. Roberto, auch er Medizinstudent, war unverletzt. Im nächsten Augenblick zogen die beiden weitere Sitze von dem Haufen und versorgten, so gut es ging, die verletzten Passagiere, die sie auf diese Weise befreiten.
Zur gleichen Zeit erhob sich auch Marcelo Perez in dem Wrack. Er hatte bei dem Aufprall einen Schlag in die Seite bekommen, und in seinem Gesicht waren Blutergüsse, aber das waren unbedeutende Verletzungen, und als unser langjähriger Mannschaftskapitän übernahm er sofort das Kommando. Als Erstes rief er die unverletzten Jungen zu sich und wies sie an, die Passagiere unter dem Stapel mit den losgerissenen Sitzen zu befreien. Das war eine mühselige Arbeit. Die Gewalt des Aufpralls hatte die Sitze zu einem unentwirrbaren Durcheinander zusammengeschoben; jeder Sitz war mit mehreren anderen verhakt, und die so entstandenen Klumpen waren so schwer, dass man sie nicht bewegen konnte.Viele Überlebende waren Sportler in Topform, aber als sie sich bemühten, die Sitze auseinander zuzerren, mussten auch sie in der dünnen Gebirgsluft nach Atem ringen.
Als die Passagiere einer nach dem anderen unter den zerstörten Sitzen hervorkamen, beurteilten Roberto Canessa und Gustavo Zerbino ihren Zustand und gaben sich alle Mühe, die manchmal wahrhaft grausigen Verletzungen zu versorgen. Arturo Nogueira hatte sich beide Beine mehrfach gebrochen. Alvaro hatte ein gebrochenes Bein, ebenso Pancho Delgado. Ein fünfzehn Zentimeter langes Stahlrohr hatte sich wie ein Speer in Enrique Plateros Magen gebohrt, und als Zerbino seinem Freund das Rohr aus den Eingeweiden zog, kamen auch mehrere Zentimeter von dessen Darm zum Vorschein. Noch grauenhafter war die Verletzung am rechten Bein von Rafael Echavarren: der Wadenmuskel war vom Knochen abgerissen und hatte sich nach vorn um ihn herumgewickelt, sodass er als glibberige Masse quer über das Schienbein hing. Als Zerbino ihn fand, lag Echavarrens Beinknochen völlig frei. Zerbino unterdrückte seinen Ekel, griff nach dem losen Muskel, schob ihn an seinen Platz und bandagierte das blutige Bein mit weißen Stoffstreifen vom Hemd eines anderen. Auch Plateros Bauch verband er, und dann half der ruhige, unerschütterliche Platero mit, andere aus ihrem Gefängnis unter den Sitzen zu befreien.
Als immer mehr Passagiere aus dem Wrack gezogen wurden, stellten die »Ärzte« zu ihrem Erstaunen fest, dass die meisten Überlebenden nur kleinere Verletzungen erlitten hatten. Canessa und Zerbino säuberten und verbanden die Wunden. Andere, die an Armen und Beinen verletzt waren, schickten sie zum Gletscher: Dort konnten sie ihre Gliedmaßen im Schnee kühlen und so die Schmerzen betäuben. Jeder unverletzte Überlebende wurde nach der Befreiung aus den Sitzen selbst zum Arbeiter, und schon bald waren alle eingeklemmten Passagiere befreit – mit einer Ausnahme: Señora Mariani, eine Frau mittleren Alters. Sie gehörte nicht zu unserer Gruppe, sondern reiste zur Hochzeit ihrer Tochter nach Chile. Die Tickets für den Flug hatte sie unmittelbar bei der Luftwaffe gekauft und sich so eine preisgünstige Reise gesichert. Bei dem Aufprall war ihr Sitz nach vorn abgeknickt, hatte sie mit der Brust gegen die Knie gedrückt und die Beine nach hinten unter dem Sitz festgeklemmt. Andere Sitze waren von oben auf sie gefallen und hatten einen so schweren, verworrenen Haufen gebildet, dass man sie auch mit noch so viel Anstrengung nicht befreien konnte. Sie hatte
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