72 Tage in der Hoelle
helfen. Von meinen ersten bewussten Augenblicken an nagte an mir der ernüchternde Gedanke, dass wir auf uns selbst gestellt waren, und es beunruhigte mich, dass die anderen sich ganz auf das Eintreffen der Rettungskräfte verließen. Aber schon bald bemerkte ich, dass auch andere so dachten wie ich. Zu den »Realisten«, wie ich sie insgeheim nannte, gehörten Canessa und Zerbino, aber auch Fito Strauch, ein früheres Mitglied der Old Christians, der auf Einladung seines Cousins Eduardo an der Reise teilgenommen hatte, und Carlitos Paez, dessen Vater, der berühmte uruguayische Maler und Abenteurer Carlos Paez-Villaro, mit Picasso befreundet war. Diese Gruppe diskutierte schon seit Tagen darüber, den nächstliegenden Gipfel zu besteigen.Vielleicht schafften wir es auf diese Weise, Hilfe zu holen. Wir alle wussten, was unser Copilot gestöhnt hatte, als er im Sterben lag: Wir haben Curicó hinter uns, wir haben Curicó hinter uns ... In den ersten Stunden nach dem Absturz hatte jemand im Cockpit einen Satz Flugkarten gefunden. Arturo Nogueira, der mit seinen zerschmetterten Beinen an die Kabine gefesselt war, studierte stundenlang die komplizierten Karten und suchte die Kleinstadt Curicó. Schließlich hatte er sie gefunden: Sie lag westlich der chilenischen Grenze ein ganzes Stück hinter dem Westabhang der Anden. Keiner von uns war ein Experte im Lesen solcher Landkarten, aber eines schien klar zu sein: Wenn wir tatsächlich nach Westen schon bis Curicó gekommen waren, hatten wir den Gebirgszug in seiner ganzen Breite überquert. Demnach musste sich die Absturzstelle irgendwo im westlichen Vorgebirge der Anden befinden. Bestärkt wurden wir in dieser Ansicht auch durch den Höhenmesser der Fairchild, der für unsere Position eine Höhe von 2100 Metern anzeigte. Wären wir mitten in den Anden gewesen, hätte die Stelle viel höher gelegen. Wir befanden uns sicher im Vorgebirge, und die hohen Bergrücken westlich von uns waren die letzten hohen Gipfel. Wir waren überzeugt, dass hinter diesen Gipfeln im Westen die grünen Felder Chiles lagen. Dort würden wir ein Dorf finden, oder zumindest die Hütte eines Schäfers. Dort würde jemand sein, der uns half. Wir würden alle gerettet werden. Bisher hatten wir uns wie Schiffbrüchige gefühlt, die sich mitten auf dem Ozean befinden und keine Ahnung haben, wo die nächste Küste sein könnte. Jetzt hatten wir ein ganz klein wenig das Gefühl, die Dinge in den Griff zu bekommen. Zumindest eines wussten wir: Im Westen liegt Chile . Dieser Satz wurde für uns sehr schnell zu einer stehenden Redewendung, und dies gab während des ganzen Martyriums unseren Hoffnungen Auftrieb.
Am Morgen des 17. Oktober – es war unser fünfter Tag im Gebirge – waren Carlitos, Roberto, Fito und der 24-jährige Numa Turcatti der Ansicht, es sei an der Zeit, auf den Berg zu steigen. Numa gehörte nicht zu den Old Christians – er hatte die Reise als Gast seiner Freunde Pancho Delgado und Gaston Costemalle mitgemacht -, aber er war ebenso fit und kräftig wie wir und hatte den Absturz fast ohne eine Schramme überstanden. Ich kannte ihn noch nicht sehr gut, aber in den wenigen schwierigen Tagen, die wir jetzt zusammen waren, hatte er mich und andere mit seiner Ruhe und stillen Kraft beeindruckt. Numa geriet nie in Panik und wurde nie wütend. Er verfiel nie in Selbstmitleid oder Verzweiflung. An ihm war etwas Edles, Selbstloses, und das war für alle zu erkennen. Er kümmerte sich um die Schwächeren und tröstete jene, die weinten oder Angst hatten. Es war, als liege ihm das Wohlergehen aller anderen ebenso am Herzen wie sein eigenes, und wir alle schöpften aus seinem Vorbild viel Kraft. Eines wusste ich fast vom ersten Augenblick an: Wenn wir irgendwann aus diesen Bergen herauskamen, würde Numa daran einen Anteil haben, und es überraschte mich nicht im Mindesten, dass er sich freiwillig für die Klettertour gemeldet hatte.
Ebenso wenig war ich verwundert, dass Carlitos und Roberto mitmachten. Beide waren beim Absturz unverletzt geblieben, und jeder war auf seine Weise zu einer der auffälligeren Gestalten in unserer Gruppe geworden: Roberto durch seine Intelligenz, seinen medizinischen Sachverstand und sein manchmal streitlustiges Wesen, Carlitos mit seinem Optimismus und seinem tapferen Humor. Fito, ein früherer Spieler der Old Christians, war ein ruhiger, ernster Junge. Er hatte bei dem Absturz eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, war aber jetzt vollständig
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