72 Tage in der Hoelle
trinken, fütterte sie mit den kleinen Schokoladenstücken, die Marcelo für sie vorgesehen hatte. Vor allem aber redete ich ihr gut zu und wärmte sie. Ich konnte nie genau sagen, ob sie sich meiner Gegenwart bewusst war. Sie war immer nur halb bei Bewusstsein. Häufig stöhnte sie. Auf ihrer Stirn standen ständig Falten, und in ihrem Blick lag eine hilflose Traurigkeit. Manchmal betete sie, oder sie sang ein Kinderlied. Und immer wieder rief sie nach unserer Mutter. Dann beruhigte ich sie und flüsterte ihr ins Ohr. Selbst an diesem schrecklichen Ort war jeder Augenblick mit ihr kostbar, und ihr weicher, warmer Atem auf meiner Wange war für mich ein großer Trost.
Als ich am Spätnachmittag des achten Tages neben Susy lag und meine Arme um sie geschlungen hatte, bemerkte ich eine Veränderung. Der unruhige Blick verschwand aus ihrem Gesicht, und in ihrem Körper löste sich die Anspannung. Ihr Atem wurde flach und langsam, und ich spürte, wie ihr Leben aus meinen Armen glitt, aber ich konnte nichts dagegen tun. Dann hörte sie auf zu atmen und wurde ganz ruhig.
»Susy?«, schrie ich. »Mein Gott, Susy, bitte nicht!«
Ich rappelte mich auf die Knie hoch und begann mit Mundzu-Mund-Beatmung. Zwar wusste ich noch nicht einmal genau, wie man das macht, aber ich wollte sie unbedingt retten. »Los, Susy, bitte!«, schrie ich. »Du darfst mich nicht allein lassen!« Ich mühte mich über ihr ab, bis ich erschöpft zu Boden fiel. Roberto nahm meinen Platz ein, aber auch er hatte keinen Erfolg. Dann versuchte es Carlito – vergeblich. Schweigend versammelten sich die anderen um mich.
Roberto kam zu mir. »Es tut mir leid, Nando, aber sie ist tot«, sagte er. »Bleib heute Nacht bei ihr. Morgen früh werden wir sie bestatten.« Ich nickte und nahm meine Schwester in den Arm. Wenigstens konnte ich sie jetzt mit aller Kraft umarmen und brauchte keine Angst mehr zu haben, ihr wehzutun. Sie war noch warm, und ihre Haare strichen mir sanft über das Gesicht. Aber als ich meine Wange an ihre Lippen drückte, spürte ich keinen warmen Atem mehr auf meiner Haut. Meine Susy war fort. Ich bemühte mich, mir das Gefühl des Umarmens einzuprägen, das Gefühl ihres Körpers, den Duft ihrer Haare. Als ich daran dachte, was ich alles verloren hatte, überrollte mich das Unglück wie eine Welle, und mein Körper erbebte von heftigem Schluchzen. Aber gerade als die Trauer mich überwältigen wollte, hörte ich wieder einmal, wie die kühle, körperlose Stimme mir ins Ohr flüsterte:
Tränen sind Salzverschwendung.
Ich lag die ganze Nacht wach neben ihr. Meine Brust wurde vom Schluchzen erschüttert, aber ich gestattete mir nicht den Luxus, Tränen zu vergießen.
Am nächsten Morgen legten wir ein paar lange Nylon-Gepäckgurte um Susy und zogen sie aus dem Flugzeugrumpf in den Schnee. Ich sah zu, wie die anderen sie zu ihrem Grab schleppten. Es mochte nach einer groben Behandlung aussehen, aber die anderen hatten aus Erfahrung gelernt, dass Leichen schwer, biegsam und schwer zu handhaben waren. Auf diese Weise konnte man sie am einfachsten transportieren, und ich störte mich deshalb nicht weiter daran.
Wir zogen Susy zu einer Stelle im Schnee links neben dem Flugzeug, wo man auch die anderen Toten bestattet hatte. Die gefrorenen Leichen waren deutlich zu erkennen: Nur wenige Zentimeter Eis und Schnee verdeckten die Gesichter. Ich stand über einem der Gräber und konnte ohne weiteres die schattenhafte Form des blauen Kostüms meiner Mutter erkennen. Neben ihr hob ich eine flache Grube für Susy aus. Dann legte ich meine Schwester hinein und strich ihr die Haare zurück. Ich bedeckte sie mit einigen Händen voll kristallweißem Schnee, wobei ich ihr Gesicht bis ganz zum Schluss frei ließ. Sie wirkte friedlich, als schliefe sie unter einer dicken Wolldecke. Ich warf einen letzten Blick auf meine wunderschöne Susy, dann häufte ich sanft ein paar Hand voll Schnee auf ihre Wangen, bis das Gesicht unter den glitzernden Kristallen verschwunden war.
Als wir fertig waren, gingen die anderen wieder in den Flugzeugrumpf. Ich wandte mich um und blickte hinauf zu dem steil ansteigenden Gletscher, zu den Bergrücken, die uns den Weg nach Westen versperrten. Deutlich erkannte ich die breite Furche, die das Flugzeug in den Schnee gerissen hatte, als es wie ein Schlitten die Böschung hinuntergerast war. Mit meinen Blicken folgte ich dieser Spur den Berg hinauf bis zu der Stelle, wo wir aus dem Himmel in jenen Wahnsinn gestürzt
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