72 Tage in der Hoelle
wiederhergestellt; das war für uns andere sehr gut, denn Fito erwies sich unter allen Überlebenden als einer der Klügsten und Erfindungsreichsten. Kurz nach dem Absturz hatten wir Schwierigkeiten, in dem tiefen, weichen Schnee rund um den Flugzeugrumpf vorwärtszukommen. Da kam Fito auf die Idee, uns die Sitzkissen der Fairchild mit Sicherheitsgurten oder Kabelstücken an die Füße zu binden. Auf diese Weise hatten wir behelfsmäßige Schneeschuhe, mit denen wir gehen konnten, ohne im Schnee zu versinken. Auch als die vier Kletterer sich jetzt über die tiefen Schneewehen in Richtung des Berges auf den Weg machten, hatten sie Fitos Schneeschuhe an ihren Stiefeln befestigt. Sie hatten die Hoffnung, den Gipfel zu erreichen und das Gelände dahinter überblicken zu können. Unterwegs konnten sie nach dem abgebrochenen Schwanz der Fairchild suchen, und alle hofften, dieser sei voller Lebensmittel und warmer Kleidung. Wir fragten uns sogar, ob darin vielleicht noch jemand überlebt hatte. Außerdem erfuhren wir von dem Flugingenieur Carlos Roque, dass auch die Batterien für das Funkgerät der Maschine im Heck verstaut waren. Wenn wir sie fanden, so meinte er, könnten wir vielleicht das Funkgerät reparieren und einen Hilferuf senden.
Sie machten sich bei gutem Wetter auf den Weg. Ich wünschte ihnen alles Gute und beschäftigte mich dann wieder mit der Pflege meiner Schwester. Als die Kletterer zurückkehrten, lagen bereits die Schatten des Nachmittags über der Fairchild.Ich blickte auf und sah, wie sie in die Maschine stolperten und zu Boden sackten. Sie waren körperlich am Ende und schnappten nach Luft. Die anderen umlagerten sie sofort und bestürmten sie mit Fragen; alle waren erpicht auf ermutigende Neuigkeiten. Ich ging zu Numa und erkundigte mich, wie es gewesen war.
Er schüttelte den Kopf und warf mir einen finsteren Blick zu. »Verdammt hart, Nando«, sagte er dann, wobei er um Luft rang. »Es ist steil. Viel steiler, als es von hier unten aussieht.«
»Die Luft ist zu dünn«, fügte Canessa hinzu. »Man kann nicht atmen. Und man kann sich nur ganz langsam bewegen.«
Numa nickte. »Der Schnee ist zu tief, jeder Schritt ist eine Qual. Und unter dem Schnee sind Gletscherspalten. In eine wäre Fito beinahe hineingefallen.«
»Habt ihr im Westen irgendetwas gesehen?«, fragte ich.
»Wir haben es an dem Abhang kaum bis auf die halbe Höhe geschafft«, erwiderte Numa. »Gesehen haben wir überhaupt nichts. Die Berge versperren die Aussicht. Sie sind viel höher, als es den Anschein hat.«
Ich wandte mich an Canessa. »Roberto«, sagte ich, »was meinst du? Können wir hinaufklettern, wenn wir es noch einmal versuchen?«
»Keine Ahnung, Mann«, flüsterte er, »ich weiß es nicht.«
»Diesen Berg können wir nicht besteigen«, murmelte Numa. »Wir müssen einen anderen Weg finden – wenn es einen gibt.«
In dieser Nacht hing eine düstere Stimmung in der Luft. Die vier Kletterer waren von uns allen die Kräftigsten und Gesündesten, aber der Berg hatte sie mit Leichtigkeit besiegt. Dennoch mochte ich die Niederlage nicht anerkennen. Wenn ich in einem normalen Geisteszustand gewesen wäre, hätte ich in ihren Gesichtern und den düsteren Blicken zwischen ihnen gesehen, welche grausige Erkenntnis ihnen die Klettertour beschert hatte: Von diesem Ort gab es kein Entrinnen, eigentlich waren wir alle schon tot. Stattdessen sagte ich mir, sie seien zu nachgiebig gewesen, sie hätten zu viel Angst gehabt und zu schnell aufgegeben. So bedrohlich kam mir der Berg gar nicht vor. Ich war mir ganz sicher: Wenn wir die richtige Route und den richtigen Zeitpunkt wählten, wenn wir uns einfach weigerten, der Kälte und Erschöpfung nachzugeben, konnten wir ganz gewiss den Gipfel erreichen. An diese Überzeugung klammerte ich mich mit dem gleichen blinden Glauben, mit dem die anderen um Rettung beteten. Welche Wahl hätte ich gehabt? Mir kam die Sache grausam einfach vor: Leben ist hier nicht möglich. Ich muss mich an einen Ort begeben, wo es Leben gibt. Ich muss nach Westen, nach Chile.Verzweifelt hielt ich mich an das Einzige, was ich sicher wusste: Im Westen liegt Chile. Im Westen liegt Chile . Ich ließ die Worte in meinem Inneren widerhallen wie ein Mantra. Und ich wusste, dass ich irgendwann klettern musste.
In den ersten Tagen unseres Martyriums wich ich kaum von der Seite meiner Schwester. Ich war die ganze Zeit bei ihr, massierte ihre erfrorenen Füße, gab ihr Wasser in kleinen Schlucken zu
Weitere Kostenlose Bücher