72 Tage in der Hoelle
Roberto wusste über die Gefahren einer Unterkühlung Bescheid und begriff, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun mussten, um so viel Körperwärme wie möglich zu speichern. Selbst wenn die dünnen Decken sie nicht wärmten, konnten sie mit ihnen vielleicht bis zum nächsten Morgen am Leben bleiben.
Mich legten sie neben Susy und Panchito an den Fuß von Marcelos Mauer. Es war der kälteste Teil der Kabine. Durch die provisorische Abdichtung pfiff der Wind. Der Fußboden unter uns war beim Absturz weggerissen worden, und von unten strömte ebenfalls kalte Luft herein; sie hatten uns dort untergebracht, weil sie die Hoffnung, dass wir noch lange leben würden, bereits aufgegeben hatten, und die wärmeren Plätze wollten sie für diejenigen aufsparen, denen sie größere Überlebenschancen gaben. Susy und Panchito waren bei Bewusstsein und müssen in jener ersten Nacht entsetzlich gelitten haben, aber ich lag noch im Koma und bekam nichts davon mit. Möglicherweise rettete die eisige Luft mir sogar das Leben, weil sie die Schwellung verminderte, die mein Gehirn ansonsten zerstört hätte.
Je weiter die Nacht voranschritt, desto stärker legte sich die Kälte über die Menschen, ließ sie bis auf die Knochen auskühlen und zerstörte ihre Zuversicht. Jeder Augenblick wurde zur Ewigkeit, und als das letzte Tageslicht schwand, war es, als sickerte die Dunkelheit der Berge in die Seelen der Überlebenden. Nach dem Absturz hatte zielgerichtete Arbeit sie davon abgehalten, sich ihren Ängsten hinzugeben, und durch die körperliche Tätigkeit war ihnen warm geworden. Jetzt aber, als sie hilflos im Dunkeln lagen, schützte nichts sie vor der Kälte und – noch schlimmer – vor der Verzweiflung. Überlebende, die bei Tageslicht noch eine unerschütterliche Ruhe an den Tag gelegt hatten, weinten jetzt oder schrien vor Schmerzen. Es gab Wutausbrüche, beispielsweise wenn jemand sich umdrehte und dabei gegen das verletzte Bein eines anderen stieß oder wenn jemand einem anderen, der schlafen wollte, unabsichtlich einen Fußtritt versetzte. Irgendwann erkannte Diego Storm – auch er ein Medizinstudent aus unserer Gruppe – in meinem Gesicht irgendein Anzeichen, dass ich vielleicht am Leben bleiben würde; also zog er mich von Marcelos Mauer weg an eine wärmere Stelle im Rumpf, wo die anderen mich wärmen konnten. Einige schafften es in jener Nacht, ein wenig zu schlafen, aber die meisten litten einfach nur vor sich hin. Sekunde folgte auf Sekunde, Atemzug auf Atemzug, während Geräusche von Leiden und Wahn die Luft erfüllten. Panchito bettelte mit dünner Stimme herzzerreißend um Hilfe und murmelte ständig, ihm sei kalt. Susy betete und rief nach unserer Mutter. Señora Mariani schrie und jammerte in ihrem Schmerz. Im Cockpit delirierte der Pilot, bettelte um seine Pistole und wiederholte immer wieder: »Wir haben Curicó hinter uns, wir haben Curicó hinter uns.« »Es war ein Albtraum, Nando«, erzählte Coche mir später. »Es war Dantes Hölle.«
Die Überlebenden litten in dieser ersten Nacht inmitten des Chaos. Die Stunden schienen endlos, aber irgendwann graute der Morgen. Marcelo war als Erster auf den Beinen. Die anderen drängten sich immer noch auf dem Fußboden zusammen und wärmten sich; sie mochten nicht aufstehen, aber Marcelo rüttelte sie auf. Die Nacht hatte ihnen schwer zugesetzt, aber als sie sich in dem Tageslicht bewegten, das jetzt in die Kabine fiel, besserte sich die Stimmung. Sie hatten das Unmögliche möglich gemacht und eine Winternacht in den Anden überlebt. Heute würden die Rettungsmannschaften sie doch sicher finden.Während der ganzen schrecklichen Nacht hatte Marcelo ihnen immer wieder versichert, dass die Retter bald kommen würden, dass sie das Schlimmste hinter sich hatten.
Nach dem Aufstehen gingen Canessa und Zerbino durch den Rumpf, um nach den Verletzten zu sehen. Panchito lag steif und unbeweglich da. Er war während der Nacht gestorben. Im Cockpit fanden sie Laguraras leblosen Körper. Señora Mariani bewegte sich nicht, aber als Canessa sie anfasste, schrie sie wiederum vor Schmerzen. Er ließ sie in Ruhe. Als er das nächste Mal nach ihr sah, war sie tot.
Die Ärzte taten für die Verletzten, was sie konnten. Sie reinigten Wunden, wechselten Kleidungsstücke und führten diejenigen mit Knochenbrüchen nach draußen zum Gletscher. Susy fanden sie neben Panchitos Leiche. Sie war bei Bewusstsein, fantasierte aber immer noch. Roberto massierte ihr die Füße, die von
Weitere Kostenlose Bücher