72 Tage in der Hoelle
Team auszufechten. Wer über das notwendige Stehvermögen und ausreichende körperliche Kräfte verfügte, tat, was getan werden musste. Die Schwächeren und Verwundeten ertrugen es einfach. Wir versuchten zwar, sie anzutreiben, und manchmal kommandierten wir sie auch herum, wir verachteten sie jedoch nie und überließen sie nicht einfach ihrem Schicksal. Instinktiv begriffen wir, dass man an diesem entsetzlichen Ort niemanden nach den Maßstäben der normalen Welt beurteilen konnte. Wir standen einem überwältigenden Schrecken gegenüber, und man konnte bei niemandem wissen, wie er zu diesem oder jenem Zeitpunkt reagieren würde. Hier erforderte das nackte Überleben heldenhafte Anstrengungen, und auch die Jungen im Schatten fochten ihren eigenen, höchstpersönlichen Kampf aus.Wir wussten, dass es unsinnig war, jemanden über seine Fähigkeiten hinaus zu fordern. Deshalb sorgten wir dafür, dass sie genug zu essen und warme Kleidung hatten. In den kältesten Stunden der Nacht massierten wir ihnen die Füße, um sie vor Erfrierungen zu bewahren. Wir achteten darauf, dass sie sich nachts richtig zudeckten, und tauten Schnee für sie auf, wenn sie nicht die Energie aufbrachten, selbst nach draußen zu gehen und frische Luft zu schnappen. Vor allem aber blieben wir Leidensgenossen. Wir hatten schon zu viele Freunde verloren. Für uns war jedes Menschenleben kostbar. Wir würden alles in unserer Macht Stehende tun, damit sämtliche Freunde überlebten.
»Noch einmal Luft holen«, sagten wir zu den Schwächeren, wenn Kälte, Angst oder Verzweiflung sie wieder einmal an den Rand des Aufgebens getrieben hatten. »Solange du atmest, kämpfst du noch ums Überleben.« Tatsächlich lebten wir alle hier oben von einem Atemzug zum nächsten, und nur mit Mühe brachten wir die Willenskraft auf, um von Herzschlag zu Herzschlag weiter zu leiden.Wir litten ständig und auf vielerlei Weise, aber am allerschlimmsten setzte uns die Kälte zu. An die eisigen Temperaturen gewöhnten wir uns nie – dazu ist kein menschlicher Organismus in der Lage. In den Anden war immer noch Winter; häufig wüteten Schneestürme rund um die Uhr, sodass wir nicht aus dem Flugzeug herauskamen. An schönen Tagen wiederum brannte die Gebirgssonne auf uns herunter, und dann verbrachten wir möglichst viel Zeit im Freien, um die warmen Strahlen aufzusaugen. Wir hatten sogar ein paar Sitze aus der Maschine geholt und wie Liegestühle im Schnee aufgebaut, sodass wir uns richtig in die Sonne setzen konnten. Nur allzu schnell versank sie jedoch wieder hinter den Bergrücken im Westen, und dann schien sich das leuchtende Blau des Himmels in nur wenigen Sekunden in dunkles Violett zu verwandeln. Sterne gingen auf, und die Schatten flossen von den Berghängen hinunter wie eine Flut. Sobald die dünne Luft nicht mehr von der Sonne erwärmt wurde, gingen die Temperaturen rapide abwärts; dann zogen wir uns in den Rumpf zurück und machten uns bereit für das Elend einer weiteren Nacht.
In großer Höhe ist die Kälte etwas Bösartiges, Aggressives. Sie verbrennt und schlägt einen, dringt in jede Körperzelle ein und drückt einen mit einer Kraft zu Boden, als könnte sie alle Knochen brechen. Der zugige Flugzeugrumpf schützte uns vor dem Wind, der uns umgebracht hätte, aber die Luft im Inneren war immer noch gefährlich kalt.Wir hatten Feuerzeuge und hätten ohne weiteres ein Feuer anzünden können, aber es gab hier oben so gut wie kein brennbares Material. Wir verbrannten unser gesamtes Papiergeld – etwa 7500 Dollar gingen in Rauch auf -, und in der Maschine fanden wir noch so viele Holzreste, dass wir zwei- oder dreimal ein kleines Feuer machen konnten. Es war allerdings jedes Mal sehr schnell niedergebrannt, und nach dem kurzen Luxus der Wärme erschien uns die Kälte nur umso schlimmer. Das beste Gegenmittel bestand meist darin, dass wir uns auf den Sitzpolstern, die wir auf dem Fußboden ausgebreitet hatten, eng zusammendrängten und die dünnen Decken über unsere Körper zogen; so konnten wir hoffen, dass wir uns gegenseitig genügend Wärme spendeten und wieder einmal eine Nacht am Leben blieben. Stundenlang lag ich in der Dunkelheit, meine Zähne klapperten und mein Körper bibberte so stark, dass meine Hals- und Schultermuskeln ständig verkrampft waren. Wir achteten alle sehr darauf, Arme und Beine vor Erfrierungen zu schützen, deshalb steckte ich die Hände beim Schlafen immer unter die Achseln und die Füße unter einen anderen Körper.
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