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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Schnee, und aus der Tülle floss ein ununterbrochenes Rinnsal. Fito fing das Wasser mit einer Flasche auf, und als die anderen sahen, wie gut seine Erfindung funktionierte, holten auch sie sich solche Aluminiumfolien – eine davon befand sich unter jedem Sitz – und bogen sie genauso zurecht. Marcelo war von Fitos Apparatur so beeindruckt, dass er eine kleine Gruppe mit der Aufgabe betraute, die Wassergewinnung zu beaufsichtigen.Von nun an waren wir ständig mit Wasser versorgt. Wir konnten zwar nicht so viel herstellen, wie wir eigentlich gebraucht hätten, und der Durst wurde nie ganz gestillt, aber dank Fitos Erfindung nahmen wir nun so viel Flüssigkeit zu uns, dass wir überleben konnten. Wir waren autark. Mit Klugheit und Teamgeist hatten wir es geschafft, dass wir an Kälte und Durst nicht mehr sterben mussten, aber wenig später standen wir vor einem Problem, das wir auf diese Weise nicht lösen konnten. Unsere Nahrungsvorräte gingen zur Neige. Wir hungerten.
    Anfangs hatten wir uns wegen des Hungers keine großen Sorgen gemacht. Die Kälte und der seelische Schock hatten uns in Verbindung mit allgemeiner Niedergeschlagenheit und Angst den Appetit gründlich verdorben, und da wir überzeugt waren, dass die Rettungskräfte uns bald finden würden, gaben wir uns mit den von Marcelo verteilten mageren Rationen zufrieden. Aber die Rettungskräfte kamen nicht.
    Gegen Ende der ersten Woche stand ich eines Morgens au ßerhalb des Rumpfes und betrachtete die eine schokoladenumhüllte Erdnuss in meiner Hand. Unsere Vorräte waren erschöpft. Das hier war das einzige Stückchen Nahrung, das ich bekommen würde, und mit trauriger, nahezu geiziger Verzweiflung war ich entschlossen, damit auszukommen. Am ersten Tag lutschte ich langsam die Schokolade ab, dann steckte ich die Erdnuss in meine Hosentasche. Am zweiten Tag nahm ich die beiden Hälften der Erdnuss vorsichtig auseinander, ließ die eine wieder in die Tasche gleiten und steckte die andere in den Mund. Stundenlang lutschte ich behutsam an der Erdnuss, und hin und wieder gestattete ich mir, einen winzigen Brocken abzubeißen. Genauso machte ich es auch am dritten Tag, und als von der Erdnuss schließlich nichts mehr übrig war, besaßen wir keinerlei Lebensmittel mehr.
    Der menschliche Organismus hat in großer Höhe einen astronomischen Kalorienbedarf. Ein Bergsteiger, der auf einen der Berge rund um die Absturzstelle geklettert wäre, hätte täglich bis zu 15000 Kalorien gebraucht, nur um sein Körpergewicht zu halten. Wir kletterten zwar nicht, aber unser Kalorienbedarf lag dennoch erheblich höher als zu Hause. Schon bevor die Rationen zu Ende gingen, hatten wir nie mehr als ein paar hundert Kalorien am Tag zu uns genommen. Jetzt lag die Energiezufuhr schon seit einigen Tagen bei Null. Als wir in Montevideo das Flugzeug bestiegen hatten, waren wir kräftige junge Männer gewesen, viele sogar Leistungssportler in Topform. Jetzt erkannte ich, dass die Gesichter meiner Freunde schmal und mitgenommen aussahen. Alle bewegten sich unbeholfen und unsicher, und in ihren Augen lag eine erschöpfte Stumpfheit. Wir litten ernsthaft Hunger und hatten keine Aussicht, etwas zu essen zu finden, aber der Hunger wurde so heftig, dass wir dennoch auf die Suche gingen. Wir waren besessen von dem Gedanken, Nahrung zu suchen, aber was uns antrieb, hatte nichts mit normalem Appetit zu tun. Wenn das Gehirn spürt, dass der Prozess des Verhungerns einsetzt – wenn es also bemerkt, dass der Körper sein eigenes Muskelgewebe abbaut, um Energie zu gewinnen -, setzt es als Alarmzeichen einen ebenso aufwühlenden, kräftigen Adrenalinschub frei wie in einem gejagten Tier, das einem natürlichen Feind entgehen will. Urtümliche Instinkte hatten sich breitgemacht, und was uns so hektisch auf Nahrungssuche trieb, war eigentlich weniger der Hunger als vielmehr die Angst. Immer wieder durchstöberten wir den Flugzeugrumpf nach essbaren Krümeln und Brocken. Wir versuchten, von Gepäckstücken losgerissene Lederstreifen zu essen, obwohl wir wussten, dass sie mit Chemikalien behandelt waren, die mehr Schaden als Nutzen anrichten würden. Wir rissen die Sitzpolster auf in der Hoffnung, Stroh darin zu finden, aber sie enthielten nur ungenießbaren Polsterschaum. Obwohl ich überzeugt war, dass wir nicht das geringste Stückchen Nahrung finden würden, gab mein Geist keine Ruhe. Stundenlang zermarterte ich mir zwanghaft den Kopf, woher man etwas zu essen beschaffen könnte. Vielleicht gibt es

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