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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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in den Leichen unserer Freunde.«
    Als er innehielt, herrschte tiefes Schweigen. Schließlich fand jemand die Sprache wieder. »Was sagst du da?«, schrie er. »Wir sollen die Toten essen?«
    »Wir wissen nicht, wie lange wir hier noch gefangen sind«, fuhr Roberto fort. »Wenn wir nichts essen, werden wir sterben. So einfach ist das. Wenn ihr eure Familien wiedersehen wollt, müsst ihr es tun.«
    Als die anderen begriffen, was Roberto gesagt hatte, spiegelte sich Erstaunen in ihren Gesichtern. Dann meldete sich Liliana.
    »Ich kann das nicht«, sagte sie leise. »Ich könnte das nie tun.«
    »Du tust es ja nicht für dich«, erwiderte Gustavo, »du musst es für deine Kinder tun. Du musst am Leben bleiben und zu ihnen zurückkehren.«
    »Aber was richtet das mit unserer Seele an?«, fragte jemand. »Kann Gott uns so etwas vergeben?«
    »Wenn du nichts isst, entscheidest du dich zu sterben«, antwortete Roberto. »Würde Gott das vergeben? Nach meiner Überzeugung will Gott, dass wir alles tun, um am Leben zu bleiben.«
    Ich entschloss mich, auch etwas zu sagen. »Wir müssen fest daran glauben, dass es jetzt einfach nur Fleisch ist«, erklärte ich ihnen. »Die Seelen sind weg. Wir müssen Zeit gewinnen, sonst sind wir tot, bis uns die Rettungskräfte finden.«
    »Und wenn wir allein hier rauskommen müssen, brauchen wir Kraft, sonst können wir es nicht mit den Bergen aufnehmen«, setzte Fito hinzu.
    »Fito hat Recht«, sagte ich. »Und wenn unsere toten Freunde uns helfen können, am Leben zu bleiben, sind sie nicht umsonst gestorben.«
    Die Diskussion setzte sich den ganzen Nachmittag fort. Viele Überlebende – darunter Liliana, Javier, Numa Turcatti, Coche Inciarte und andere – weigerten sich, an den Verzehr von Menschenfleisch überhaupt nur zu denken, aber keiner versuchte, uns anderen die Idee auszureden. Aus dem Schweigen entnahmen wir, dass wir Einigkeit erzielt hatten. Jetzt mussten wir uns mit der grausigen Logistik beschäftigen. »Wie sollen wir das machen?«, fragte jemand. »Wer hat den Mut und schneidet einem Freund das Fleisch ab?« Im Rumpf war es jetzt dunkel. Nur schwach konnte ich die Silhouetten erkennen. Nach langem Schweigen sprach jemand. Ich erkannte Robertos Stimme.
    »Ich mach’s«, sagte er.
    Gustavo erhob sich und fügte leise hinzu: »Ich helfe dir.«
    »Aber wen zerschneiden wir als Ersten?«, wollte Fito wissen. »Wie wählen wir aus?«
    Alle blickten wir Roberto an.
    »Das lasst mal Gustavos und meine Sorge sein«, erwiderte er.
    Fito stand auf. »Ich komme mit«, sagte er.
    »Ich helfe auch«, erklärte Daniel Maspons, ein Flügelstürmer der Old Christians und guter Freund von Coco.
    Einen Augenblick lang bewegte sich niemand, dann streckten wir alle die Arme aus, gaben uns die Hände und gelobten, dass jeder von uns, der hier vielleicht noch sterben würde, den anderen als Nahrung dienen durfte. Nach diesem Schwur erhob sich Roberto und suchte in dem Rumpf nach einem scharfen Gegenstand. Schließlich hatte er ein paar Glasscherben gefunden; dann ging er mit seinen drei Assistenten zu den Gräbern. Ich hörte sie bei der Arbeit leise sprechen, aber ich hatte keine Lust, ihnen zuzusehen. Als sie zurückkamen, hatten sie kleine Fleischstücke in der Hand. Gustavo gab mir ein Stück, und ich nahm es. Es war weißlich grau, steinhart und sehr kalt. Ich sagte mir, dass dies hier kein Teil eines Menschen mehr war; die Seele dieses Menschen hatte seinen Körper längst verlassen. Dennoch stellte ich fest, dass ich das Fleisch nur zögernd zum Mund führte. Ich vermied es, irgendwelche Blicke zu erwidern, aber aus den Augenwinkeln sah ich die anderen um mich herum. Einige saßen da wie ich, das Fleisch in der Hand, und sammelten Kräfte zum Essen. Bei anderen hatten die Kiefer ihre grausige Tätigkeit bereits aufgenommen. Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und steckte das Fleisch in den Mund. Es schmeckte nach nichts. Ich kaute ein- oder zweimal, dann zwang ich mich zu schlucken. Ich empfand weder Schuld noch Scham. Ich tat nur, was ich tun musste, um zu überleben. Zwar begriff ich, welch großes Tabu wir gerade gebrochen hatten, aber wenn ich überhaupt ein starkes Gefühl wahrnahm, dann war es der Widerwille gegen das Schicksal, das uns gezwungen hatte, zwischen diesem Schrecken und dem Schrecken des sicheren Todes zu wählen.
    Meinen Hunger stillte das Fleisch nicht, aber es beruhigte meinen Geist. Ich wusste, dass mein Organismus das Protein nutzen würde, um Kraft

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