72 Tage in der Hoelle
zu gewinnen und den Prozess des Verhungerns zu verlangsamen. In dieser Nacht spürte ich zum ersten Mal seit dem Absturz einen kleinen Funken Hoffnung. Wir hatten das Problem in den Griff bekommen und dabei festgestellt, dass wir die Kraft besaßen, dem unvorstellbar Entsetzlichen ins Gesicht zu sehen. Mit unserem Mut hatten wir ein ganz klein wenig Kontrolle über unsere Lebensumstände zurückgewonnen und kostbare Zeit gewonnen. Jetzt machte sich niemand mehr Illusionen. Wir wussten, dass unser Kampf ums Überleben hässlicher und qualvoller werden würde, als wir es uns vorgestellt hatten, aber ich spürte auch, dass wir alle gemeinsam gegenüber den Bergen eine Erklärung abgegeben hatten: Wir würden uns nicht ergeben, und ich selbst wusste, dass ich auf bescheidene, traurige Weise den ersten Schritt nach Hause zu meinem Vater gegangen war.
5
Aufgegeben
Früh am nächsten Morgen – es war der elfte Tag im Gebirge – stand ich neben dem Rumpf der Fairchild und lehnte mich gegen das kalte Aluminium. Der Himmel war klar, es war ungefähr halb acht, und ich wärmte mich in den ersten Strahlen der Sonne, die gerade im Osten über den Bergen aufgegangen war. Bei mir waren Marcelo und Coco Nicholich sowie Roy Harley. Mit seinen achtzehn Jahren war Roy einer der Jüngsten in der Maschine gewesen. Außerdem war er unter uns allen am ehesten das, was man als Elektronikfachmann bezeichnen könnte: Er hatte einem Vetter einmal geholfen, in seinem Haus eine komplizierte Stereoanlage zu installieren. Unmittelbar nach dem Absturz hatte Roy in den Trümmern ein verbeultes Transistorradio gefunden, und mit ein wenig Bastelei hatte er es wieder funktionsfähig gemacht. In dem felsigen Gebirge war der Empfang sehr schlecht, aber Roy hatte aus Kabeln, die er aus dem Flugzeug ausgebaut hatte, eine Antenne konstruiert, und mit etwas Mühe konnten wir Sender aus Chile einstellen. Jeden Morgen ging Marcelo in aller Frühe zu Roy, weckte ihn und ging mit ihm hinaus auf den Gletscher, wo er die Antenne bewegen konnte, während Roy die Senderabstimmung betätigte. Sie hatten die Hoffnung, Neues über die Rettungsbemühungen zu erfahren, aber bisher hatten sie nur Fußballergebnisse, Wetterberichte und Propaganda der von der chilenischen Regierung kontrollierten Sender aufgefangen.
Wie jeden Tag, so wurde das Signal auch an diesem Morgen stärker und schwächer, und selbst bei bestmöglichem Empfang ließen statische Aufladungen den kleinen Lautsprecher des Radios krächzen. Roy wollte die Batterien schonen, und nachdem er ein paar Minuten mit der Sendersuche herumgespielt hatte, stand er gerade im Begriff, das Radio auszuschalten; da hörte er durch das ganze Rauschen und Krachen hindurch die Stimme eines Nachrichtensprechers. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern, aber den blechernen Klang der Stimme und den leidenschaftslosen Tonfall werde ich nie vergessen: Er berichtete, die chilenischen Behörden hätten nach zehntägiger vergeblicher Suche alle Bemühungen eingestellt, die uruguayische Chartermaschine zu finden, die am 13. Oktober über den Anden verschwunden sei. Rettungsaktionen in den Anden seien einfach zu gefährlich, und nach so langer Zeit in dem eisigen Gebirge bestehe keine Chance mehr, dass noch jemand überlebt habe.
Nach einem Augenblick des verblüfften Schweigens stieß Roy einen ungläubigen Schrei aus, dann begann er zu schluchzen.
»Was?«, schrie Marcelo. »Was hat er gesagt?«
» Suspendieron la búsqueda! «, rief Roy. »Sie haben die Suche eingestellt. Sie geben uns auf!« Ein paar Sekunden lang starrte Marcelo mit irritiertem Gesichtsausdruck zu Roy, als hätte dieser völligen Unsinn geredet, aber als er Roys Worte begriffen hatte, fiel er auf die Knie und stieß ein Angstgeheul aus, das zwischen den Bergen widerhallte. Als ich mich von dem Schock erholt hatte, beobachtete ich die Reaktionen meiner Freunde schweigend und mit einem Gefühl der Distanz, das ein Beobachter fälschlicherweise für gewahrte Fassung halten konnte. In Wirklichkeit war ich am Boden zerstört: Alle klaustrophobischen Ängste, die ich bisher mühsam unterdrückt hatte, brachen sich jetzt Bahn wie Hochwasser hinter einem nachgebenden Deich, und ich merkte, wie die Flut mich an die Grenze der Hysterie trieb. Ich haderte mit Gott. Ich schrie meinen Vater an. Machtvoller als je zuvor trieb mich der animalische Drang, blindlings in die Berge hineinzulaufen, und ich musterte manisch den Horizont, als
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