72 Tage in der Hoelle
Dennoch fühlten sich Finger und Zehen in der Kälte an, als hätte jemand mit einem Hammer darauf geschlagen. Manchmal hatte ich Angst, das Blut würde mir in den Adern gefrieren; dann bat ich die anderen, auf meine Arme und Beine zu schlagen, um die Durchblutung anzuregen. Ich schlief immer mit einer Decke über dem Kopf, um die Wärme meines Atems aufzufangen, und manchmal legte ich auch meinen Kopf dicht an das Gesicht des Jungen neben mir, um ihm ein wenig Atem, ein wenig Wärme zu stehlen. In manchen Nächten redeten wir, aber das war schwierig, denn unsere Zähne klapperten, und die Kiefer zitterten in der eisigen Luft. Oft gab ich mir Mühe, mich durch Beten von dem Elend abzulenken, oder ich malte mir meinenVater zu Hause aus. Aber lange konnte man die Kälte nie verdrängen. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig, als sich dem Leiden zu ergeben und die Sekunden bis zum Morgen zu zählen. In solchen Augenblicken der Hilflosigkeit hatte ich oftmals das Gefühl, ich würde den Verstand verlieren.
Die Kälte war immer unser schlimmster Feind, aber die größte Gefahr ging in den ersten Tagen vom Durst aus. In großer Höhe verliert der menschliche Organismus Flüssigkeit fünfmal schneller als auf Meereshöhe, was vor allem auf den niedrigen Sauerstoffgehalt der Atmosphäre zurückzuführen ist. Um aus der dünnen Gebirgsluft genügend Sauerstoff zu gewinnen, zwingt sich der Körper zu sehr schnellem Atmen. Es ist eine unwillkürliche Reaktion – oft hechelt man sogar, wenn man sich nicht bewegt. Durch die schnelleren Atembewegungen gelangt mehr Sauerstoff in die Lunge, aber nach jedem Atemzug muss man auch wieder ausatmen, und dabei geht jedes Mal kostbare Flüssigkeit verloren. Auf Meereshöhe kann ein Mensch bis zu einer Woche oder länger ohne Wasser überleben. In den Anden ist der Spielraum viel geringer, und mit jedem Atemzug rückt man dem Tod ein wenig näher.
Wassermangel herrschte im Gebirge mit Sicherheit nicht – wir saßen auf einem schneebedeckten Gletscher und waren von Millionen Tonnen gefrorenem H 2 O umgeben. Die Schwierigkeit bestand darin, es trinkbar zu machen. Gut ausgerüstete Bergsteiger führen kleine Benzinkocher mit, mit denen sie Schnee schmelzen können, und trinken ständig jeden Tag mehrere Liter Wasser, um dem Flüssigkeitsverlust vorzubeugen.Wir hatten keinen Kocher und konnten den Schnee nicht so einfach schmelzen. Anfangs steckten wir uns einfach eine Hand voll Schnee in den Mund und versuchten, ihn zu essen, aber schon nach wenigen Tagen waren unsere Lippen von der trockenen Kälte so spröde, blutig und wund, dass es uns unerträgliche Schmerzen bereitete, die eisigen Schneeklumpen in den Mund zu befördern. Dann stellten wir fest, dass wir den Schnee zu einem Ball formen und in den Händen anwärmen konnten, um dann die Tropfen von der schmelzenden Masse zu lecken. Ebenso schmolzen wir Schnee, indem wir ihn in leeren Weinflaschen herumschwenkten, und wir schlürften das Wasser aus jeder kleinen Pfütze. Oben auf dem Flugzeugrumpf zum Beispiel taute der Schnee in der Sonne, sodass ein Rinnsal an der Cockpitscheibe hinunterlief und sich in der kleinen Aluminiumrinne sammelte, an der die Windschutzscheibe unten befestigt war. An sonnigen Tagen standen wir Schlange, um dort ein wenig Wasser zu schlürfen, aber es war nie so viel, wie wir gern gehabt hätten. Tatsächlich lieferten alle Bemühungen zur Herstellung von Trinkwasser nicht annähernd genügend Flüssigkeit, um den Wasserverlust auszugleichen. Wir wurden immer schwächer, teilnahmsloser und benommener, weil Giftstoffe sich in unserem Blut anreicherten. Wir waren von einem gefrorenen Ozean umgeben und standen im Begriff, zu verdursten.Was wir brauchten, war eine effiziente Methode, um Schnee schnell schmelzen zu lassen, und dank Fitos Erfindungsreichtum fanden wir sie.
Als er an einem sonnigen Morgen vor dem Rumpf saß und ebenso durstig war wie wir alle, fiel ihm auf, dass die dünne Eisschicht, die sich jede Nacht auf dem Schnee bildete, in der Sonne taute. Da kam ihm eine Idee. Schnell durchwühlte er einen Haufen Schrott, den wir aus der Maschine entfernt hatten, und unter den zerrissenen Polstern eines mitgenommenen Sitzes fand er eine kleine, rechteckige Aluminiumfolie. Er bog ihre Ecken nach oben, sodass das Stück eine flache Schale bildete, und formte durch Abschneiden einer Ecke eine Tülle. Dann füllte er Schnee in die Schale und stellte sie in die pralle Sonne. Schon nach kurzer Zeit schmolz der
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