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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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ziehen.
    »Dieser Berg ist sicher vierzig Kilometer weit weg«, sagte ich. »Wenn wir dorthin wandern, zu der schwarzen Linie hochsteigen und dann feststellen, dass es nur eine Schieferschicht ist, schaffen wir es nicht mehr hier hoch.«
    »Es ist eine Straße, Nando. Ich bin ganz sicher!«
    »Vielleicht ist es eine Straße, vielleicht auch nicht«, antwortete ich. »Sicher wissen wir nur eines: Im Westen liegt Chile.«
    Roberto machte ein finsteres Gesicht. »Das erzählst du uns schon die ganze Zeit, aber bevor wir dort sind, haben wir uns das Genick gebrochen.«
    Roberto und ich diskutierten stundenlang weiter, und als wir uns schlafen legten, wusste ich, dass das Thema nicht geklärt war. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war wiederum klarer Himmel.
    »Mit dem Wetter haben wir Glück«, sagte Roberto. Er lag noch im Schlafsack.
    »Wie hast du dich entschieden?«, fragte ich. »Willst du umkehren?«
    »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte er. »Ich muss noch darüber nachdenken.«
    »Ich klettere weiter«, sagte ich. »Vielleicht sind wir ja bald auf dem Gipfel.«
    Roberto nickte. »Lasst eure Rucksäcke hier«, sagte er. »Ich warte, bis ihr zurückkommt.«
    Ich nickte ebenfalls. Ohne Roberto weiterzugehen, war ein entsetzlicher Gedanke, aber ich hatte nicht die Absicht, jetzt umzukehren. Also wartete ich, bis Tintin seine Sachen gepackt hatte, dann kletterten wir weiter. Nachdem wir stundenlang nur langsam vorangekommen waren, saßen wir irgendwann fest. Über uns erhob sich ein über hundert Meter hoher Felsen. Seine Wand war fast senkrecht und von hartem, zusammengebackenem Schnee bedeckt.
    »Wie sollen wir da raufkommen?«, fragte Tintin.
    Ich untersuchte die Wand. Mein Geist arbeitete schwerfällig, aber wenig später fiel mir der Aluminium-Wanderstock ein, den ich auf den Rücken geschnallt hatte.
    »Wir brauchen eine Treppe«, sagte ich. Dann nahm ich den Stock vom Rücken und fing an, mit seiner Spitze grobe Stufen in den Schnee zu hauen. Darauf konnten wir wie auf einer Leiter weiter aufsteigen. Es war eine mörderische Arbeit, aber ich setzte sie mit der dumpfen Halsstarrigkeit eines Stücks Vieh fort, und Stufe um Stufe kamen wir weiter.Tintin folgte mir. Ich wusste, dass er Angst hatte, aber er beklagte sich nie. Ohnehin war ich mir seiner Gegenwart nur dunkel bewusst. Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die vor mir liegende Aufgabe: graben, steigen, graben, steigen . In manchen Augenblicken hatte ich das Gefühl, als würden wir an der Wand eines gefrorenen Wolkenkratzers in die Höhe klettern, und es fiel mir schwer, beim Graben das Gleichgewicht zu halten, doch die Leere in meinem Rücken beunruhigte mich jetzt nicht mehr. Ich respektierte sie zwar, hatte allerdings gelernt, sie hinzunehmen.Wie ich schon sagte: Der Mensch gewöhnt sich an alles.
    So den Berg hinaufzukriechen, war quälend, und langsam verstrichen die Stunden. Irgendwann am späten Vormittag sah ich über einem Grat blauen Himmel und hielt darauf zu. Nach so vielen falschen Gipfeln hatte ich gelernt, meine Hoffnungen im Zaum zu halten, aber als ich dieses Mal über den Bergkamm stieg, fiel der Abhang flach ab, und ich stand auf einem kahlen Felsbrocken im winddurchwühlten Schnee. Allmählich begriff ich, dass über mir kein Berg mehr war. Ich hatte den Gipfel erreicht.
    Ob ich in jenem Augenblick Freude über das Erreichte empfand, weiß ich nicht mehr.Wenn es so war, dann verschwand das Gefühl, als ich mich umsah. Vom Gipfel aus hatte ich in allen Richtungen ungehinderte Rundumsicht auf die Schöpfung. Ich konnte sehen, wie der Horizont die ganze Welt umspannte wie der Rand einer riesigen Schüssel, und diese Schüssel war in allen Richtungen bis in die trübe blaue Ferne mit unzähligen schneebedeckten Bergen besetzt, jeder so steil und abweisend wie der, den ich gerade bestiegen hatte. Sofort begriff ich, dass der Copilot der Fairchild einem schrecklichen Irrtum erlegen war. Curicó lag nicht hinter uns. Wir befanden uns keineswegs nahe am Westrand der Anden. Unser Flugzeug war irgendwo mitten in der riesigen Gebirgskette abgestürzt.
    Wie lange ich dort stand und das Panorama anstarrte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht eine Minute, vielleicht auch zwei. Unbeweglich stand ich da, bis ich ein drückendes Brennen in der Brust spürte und merkte, dass ich das Atmen vergessen hatte. Ich sog die Luft ein. Meine Beine wurden weich wie Gummi, und ich sackte zu Boden. Ich verfluchte Gott und schimpfte auf die Berge. Vor

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