72 Tage in der Hoelle
mir lag die Wahrheit: Wir würden alle in diesem Gebirge sterben. Wir würden in den Schnee sinken, das uralte Schweigen würde sich über uns breiten, und unsere Angehörigen würden nie erfahren, wie wir darum gekämpft hatten, zu ihnen zurückzukehren.
In diesem Augenblick lösten sich alle meine Träume, Vermutungen und Erwartungen an das Leben in der dünnen Luft der Anden auf. Ich hatte immer geglaubt, Leben sei das Eigentliche, das Natürliche, und der Tod sei nur das Ende davon. Aber hier, an diesem leblosen Ort, erkannte ich mit schrecklicher Deutlichkeit, dass der Tod das Bleibende war;Tod war die Grundlage, und Leben nur ein kurzer, zerbrechlicher Traum. Ich war schon tot. Ich war tot geboren, und was ich für mein Leben hielt, war nur ein Spiel, das der Tod mich spielen ließ, während ich auf das Sterben wartete. In meiner Verzweiflung spürte ich eine stechende, plötzliche Sehnsucht nach der Sanftheit meiner Mutter und meiner Schwester, aber auch nach der warmen, starken Umarmung meines Vaters. Die Liebe zu meinem Vater schwoll in meinem Herzen an, und ich erkannte, dass die Erinnerung an ihn mich trotz meiner ausweglosen Lage mit Freude erfüllte. Ich war verblüfft: Die Berge waren mit all ihrer Macht nicht stärker als meine Bindung an meinen Vater. Meine Fähigkeit zu lieben, konnten sie nicht zerstören. Ich durchlebte einen Augenblick der Ruhe und Klarheit, und in dieser geistigen Klarheit entdeckte ich ein einfaches, erstaunliches Geheimnis: Es gibt ein Gegenteil zum Tod, aber dieses Gegenteil ist nicht einfach das Leben, und auch nicht Mut oder Glaube oder Willenskraft. Das Gegenteil des Todes ist die Liebe . Wie hatte ich das übersehen können? Wie kann irgendein Mensch das übersehen? Liebe ist unsere einzige Waffe. Nur sie kann das reine Leben zu einem Wunder machen, kann aus Leiden und Angst einen kostbaren Sinn entnehmen. Für einen kurzen, magischen Augenblick wichen alle Ängste von mir, und ich wusste: Ich würde nicht zulassen, dass der Tod Macht über mich gewann. Mit Liebe und Hoffnung im Herzen würde ich durch das gottverlassene Land wandern, das mich von zuhause trennte. Ich würde wandern, bis alles Leben von mir gewichen war, und wenn ich dann tot umfiel, würde ich meinem Vater viel näher sein. Solche Gedanken gaben mir Kraft, und mit neuer Hoffnung suchte ich nach Wegen durch das Gebirge. Wenig später hörte ich von dem Abhang unter mir Tintins Stimme.
»Siehst du etwas Grünes, Nando?«, rief er. »Kannst du etwas Grünes sehen?«
»Alles wird gut«, rief ich ihm zu. »Sag Roberto, er soll hier raufkommen und es sich selbst ansehen.« Während ich wartete, bis Roberto heraufgeklettert war, nahm ich eine Plastiktüte und den Lippenstift aus meinem Rucksack. Mit dem Lippenstift schrieb ich MT. SELER auf den Beutel und stopfte ihn unter einen Stein. Dieser Berg war mein Feind , dachte ich, und jetzt schenke ich ihn meinem Vater.Was auch geschehen mag, zumindest habe ich mich auf diese Weise gerächt .
Drei Stunden dauerte es, bis Roberto über die Stufen hinaufgestiegen war. Er sah sich kurz um, dann schüttelte er den Kopf. »Nun ja, dann sind wir am Ende«, sagte er knapp.
»Es muss doch einen Weg durch das Gebirge geben«, erwiderte ich. »Siehst du dort in der Ferne die beiden kleineren Gipfel ohne Schnee? Vielleicht sind die Berge dort zu Ende. Ich finde, wir sollten uns in diese Richtung halten.«
Roberto schüttelte den Kopf. »Das sind mindestens achtzig Kilometer«, sagte er, »und wer weiß, wie viel weiter es noch ist, wenn wir dort sind? Wie sollen wir in unserem Zustand eine solche Wanderung überstehen?«
»Schau mal dort unten«, erwiderte ich. »Siehst du das Tal am Fuß dieses Berges?«
Roberto nickte. Das Tal schlängelte sich kilometerweit und ganz grob in Richtung der beiden Gipfel durch das Gebirge. In der Nähe der kleineren Berge gabelte es sich. Die beiden Arme verloren wir hinter größeren Bergen aus dem Blick, aber ich war zuversichtlich, dass dieses Tal uns in die richtige Richtung führen würde.
»Eines der beiden Seitentäler muss zu den beiden Bergen führen«, sagte ich. »Dort liegt Chile, es ist nur weiter, als wir gedacht haben.«
Roberto runzelte die Stirn. »Es ist zu weit«, erwiderte er. »Das schaffen wir nie. Wir haben nicht genug zu essen.«
»Wir könnten Tintin zurückschicken«, sagte ich. »Mit seinem Proviant und dem, was von unserem noch übrig ist, halten wir ohne weiteres zwanzig Tage durch.«
Roberto wandte sich
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