Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
Vom Netzwerk:
dass der Schnee sich nicht halten konnte, und der Wind hatte den Berg bis auf das nackte Gestein abgeschliffen. Zentimeter um Zentimeter kletterten wir abwärts, wobei wir uns an den aus dem Boden ragenden Felsvorsprüngen festhielten und die Schuhe in die Lücken zwischen kleineren Felsen setzten. Manchmal krabbelten wir auf allen vieren mit dem Rücken zum Berg den Abhang hinunter, an anderen Stellen hatten wir den Rücken zum Himmel gewandt. Jeder Schritt war lebensgefährlich – Felsen, die auf den ersten Blick fest mit dem Berg verbunden zu sein schienen, brachen uns unter den Füßen weg, sodass wir nur mit Mühe wieder festen Halt fanden. Da wir keinerlei Erfahrung im Bergsteigen hatten, wussten wir auch nicht, wie wir die ungefährlichste Route ausmachen sollten.Wir hatten keinen anderen Gedanken, als den nächsten Schritt zu überleben, und gelegentlich führte uns unser aufs Geratewohl gewählter Weg an eine unpassierbare Felswand oder an die Kante eines Vorsprunges, der wie ein Balkon aus dem Abhang ragte und uns einen Schwindel erregenden Blick zum tausend Meter tiefer gelegenen Fuß des Berges erlaubte. Keiner von uns verfügte auch nur über Grundkenntnisse im Felsklettern, und doch gelang es uns, solche Hindernisse zu umgehen, oder wir kletterten durch enge Spalten zwischen ihnen hindurch. Manchmal blieb uns nichts anderes übrig, als von einem Felsen zum nächsten zu springen, wobei unter uns nichts anderes war als tausend Meter dünne Luft.

     
    Auf diese Weise stiegen wir über drei Stunden lang ab und legten dabei nicht mehr als fünfzig Meter zurück. Aber schließlich machten die Felsen offenen, dick verschneiten Böschungen Platz. Durch den hüfttiefen Schnee zu pflügen, war nicht so beängstigend wie die eigentliche Kletterei, aber es strengte uns sehr an, und wir ließen uns ständig von den hügeligen Böschungen mit ihren weichen Formen täuschen. Immer wieder führte ein anfangs sanfter Abhang zu einer Eiswand, einer verborgenen Klippe oder einem unüberwindlichen, tiefen Abgrund. Jede derartige Sackgasse zwang uns, auf der eigenen Spur zurückzugehen und eine andere Route zu suchen. Als wir einige hundert Meter bergab hinter uns gebracht hatten, änderte sich der Untergrund dramatisch. Da dieser Teil des Westabhanges jeden Tag von der Nachmittagssonne beschienen wurde, war der Schnee zum größten Teil getaut, und große Abschnitte der Felsoberfläche lagen frei. Auf dem trockenen Boden war das Gehen einfacher als im knietiefen Schnee der höheren Lagen, trotzdem behinderte uns an manchen Stellen eine knöcheltiefe Schicht aus lockeren Steinen und Schiefer. Dieses Geröll bildete einen sehr gefährlichen, instabilen Untergrund; mehr als einmal glitt ich aus und musste mich verzweifelt an Felsen oder Eisklumpen festhalten, um nicht den Berg hinunterzurutschen. Wo es möglich war, ließen wir uns auf dem Hintern durch das Geröll gleiten, oder wir ließen uns in große, mit Steinen übersäte Gräben hinunter und folgten ihnen bergab. Gegen Mittag – wir waren seit fünf Stunden unterwegs – kamen wir an eine Stelle, wo ein im Westen gelegener Berg seinen Schatten auf die Abhänge warf. Hier war der Schnee wieder tief, und als ich über die weiße, glitzernde Fläche blickte, kam mir eine Idee. Ohne genauer darüber nachzudenken, warf ich eines der Sitzpolster in den Schnee und setzte mich darauf. Ich griff mit beiden Händen nach dem Aluminium-Wanderstock, zog die Beine an, stieß mich ab und rodelte auf dem Kissen die Böschung hinunter. Sekunden später wusste ich, dass ich etwas sehr Dummes getan hatte. Die Schneefläche war hart und glatt, und schon nach wenigen Metern hatte ich ein beunruhigendes Tempo erreicht. Beim Motorradfahren auf den Landstraßen Uruguays hatte ich ein Gefühl für Geschwindigkeiten entwickelt, und jetzt war ich überzeugt, dass ich mit bis zu hundert Stundenkilometern den Abhang hinunterraste. Um den Sturz zu verlangsamen, trieb ich den Aluminiumstab in den Schnee und setzte die Fersen ein, aber das hatte nur den Effekt, dass mein Körpergewicht sich nach vorn verlagerte. Eines wusste ich genau:Wenn ich von dem Kissen flog und den Berg hinunterrollte, würde ich mir alle Knochen brechen. Also versuchte ich, nicht mehr zu bremsen, sondern hielt mich einfach fest, raste an Felsen vorüber und holperte über Höcker, ohne dass ich anhalten oder lenken konnte. Schließlich tauchte eine Schneewand vor mir auf, und mir war klar, dass ich mich auf Kollisionskurs

Weitere Kostenlose Bücher