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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Ich hätte mich zu Asche verbrennen lassen, wenn ich dadurch nach Hause gekommen wäre.
    Mittlerweile herrschten so milde Temperaturen, dass wir auch nach Sonnenuntergang weiterwandern konnten, manchmal marschierten wir bis tief in die Nacht.Trotz unseres mitgenommenen Zustandes versetzte uns die wilde Schönheit der Anden nach Einbruch der Dunkelheit in Staunen. Der Himmel war tief dunkelblau gefärbt und dicht mit glitzernden Sternen übersät. Das Mondlicht ließ die zerklüfteten Gipfel um uns weicher erscheinen und verlieh den Schneefeldern ein gespenstisches Glühen. Als wir einmal in dem Tal einen Abhang hinuntergingen, sah ich vor mir Dutzende von Schattengestalten wie Mönche mit Kapuzen, die sich im Mondlicht zum Gebet versammelt hatten. Beim Näherkommen stellten wir fest, dass es sich um hohe Säulen aus Schnee handelte – die Geologen sprechen von penitentes -, die der wirbelnde Wind am Fuß einer schneebedeckten Böschung modelliert hatte. Zu Dutzenden standen sie schweigend nebeneinander, und wir mussten zwischen ihnen einen Weg finden wie in einem Wald aus gefrorenen Bäumen. Manchmal sah ich, wie mein Schatten neben mir über den Schnee glitt, und das war für mich der Beweis, dass ich real war, dass es mich wirklich gab. Dennoch fühlte ich mich auf den mondbeschienenen Schneefeldern oftmals wie ein Geist, eingefangen zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, geleitet von nichts anderem als Willenskraft, Erinnerung und einer unstillbaren Sehnsucht nach zu Hause.
    Am Morgen des 18. Dezember – es war der siebte Tag unserer Wanderung – zog sich die mörderische Schneedecke ein wenig zurück, und wir quälten uns durch eine Landschaft mit scharfen Felsbrocken und schmutzigen Eisflächen. Ich wurde immer schwächer. Mittlerweile erforderte jeder Schritt höchste Anstrengung und meine ganze Willenskraft. Mein Denken hatte sich so weit verengt, dass in meinem Bewusstsein kein Platz für irgendetwas anderes war außer für den nächsten Schritt, das vorsichtige Aufsetzen des Fußes, die Vorwärtsbewegung. Alles andere war nicht mehr von Bedeutung – weder die Erschöpfung noch meine Schmerzen oder die Notlage der Freunde im Gebirge, ja nicht einmal die Hoffnungslosigkeit unseres Unterfangens. Das alles war vergessen. Auch Roberto hatte ich vergessen, bis ich ihn rufen hörte, und als ich mich umwandte, sah ich, dass er wieder einmal weit zurückgeblieben war.Vermutlich war es eine Art Selbsthypnose, ausgelöst durch die betäubende Wirkung meines rhythmischen Atems, das ständig wiederholte Knirschen meiner Schuhe auf Steinen und Schnee, und die Litanei der Ave-Marias, die ich ständig vor mich hinsummte. In diesem Trancezustand schwanden die Entfernungen, und die Stunden flossen dahin. Nur selten unterbrachen bewusste Gedanken den Zauber, und wenn es geschah, waren sie sehr einfach.
    Pass auf den lockeren Stein auf …
    Haben wir genug zu essen mit?
    Was machen wir hier eigentlich? Sieh dir diese Berge an!Wir sind verraten und verkauft!
    Während dieser Phase der Wanderung stellte ich irgendwann fest, dass die Sohle meines rechten Rugbyschuhs sich vom Oberleder löste. Wenn meine Schuhe in diesem rauen Gelände den Geist aufgaben, war ich verloren, das war mir klar, aber auf das Problem reagierte ich seltsam abgehoben. Im Geist malte ich mir aus, wie ich ohne Schuhe über die spitzen Steine humpelte, bis der nackte Fuß so stark blutete, dass ich nicht mehr weiterkam. Dann sah ich mich auf allen vieren kriechen, bis auch meine Hände und Knie zerfetzt waren. Am Ende legte ich mich auf den Bauch und zog mich mit den Ellenbogen vorwärts, bis meine Kraft zu Ende ging. Dann, so meine Vermutung, würde ich sterben. In meinem veränderten Geisteszustand bekümmerten solche Bilder mich nicht. Im Gegenteil: Ich fand sie beruhigend. Für den Fall, dass ein Schuh aus dem Leim ging, hatte ich einen Plan. Ich konnte etwas tun. Zwischen mir und dem Tod war noch Platz.
    Viele Kilometer wanderte ich in diesem Traumzustand. Distanziert. Weit weg. Aber manchmal rissen mich die Berge mit ihrer Kraft und Schönheit auch aus der dumpfen Selbstvergessenheit. Es geschah ganz plötzlich: Ich spürte Bewunderung für das Alter und die Erfahrung dieser Berge, und mir wurde klar, dass sie hier schweigend und gleichgültig gestanden hatten, während ganze Zivilisationen aufgestiegen und untergegangen waren. Ein Menschenleben erschien dagegen so kurz wie ein winziger Augenblick, und ich wusste: Wenn die Berge ein

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