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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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um und blickte nach Osten. Ich wusste, dass er an die Straße dachte. Ich sah wieder nach Westen, und bei dem Gedanken, allein durch diese Wildnis zu wandern, verließ mich der Mut.
    Am späten Nachmittag waren wir wieder bei unserem Lager. Während wir aßen, sprach Roberto mit Tintin. »Morgen Früh schicken wir dich zurück«, sagte er. »Die Wanderung wird länger, als wir gedacht haben, und dazu brauchen wir deinen Proviant. Außerdem kommen zwei Leute sowieso schneller voran als drei.« Tintin nickte zustimmend.
    Am Morgen erklärte Roberto, er habe sich entschlossen, bei mir zu bleiben.Wir umarmtenTintin und schickten ihn den Berg hinunter.
    »Denk daran, wir halten uns immer in westlicher Richtung«, sagte ich zu ihm, bevor wir uns trennten. »Wenn Rettungskräfte kommen, schick sie los, damit sie uns finden.«
    Den ganzen Tag ruhten wir uns für die vor uns liegende Wanderung aus. Nachmittags aßen wir ein wenig Fleisch, dann krochen wir in den Schlafsack. Als die Sonne an diesem Abend hinter dem Bergkamm über uns verschwand, glühten die Anden unter dem dramatischsten Sonnenuntergang, den ich in meinem Leben gesehen habe. Die Sonne tauchte die Berge in glitzerndes Gold, und am Himmel leuchteten dunkelrote und violette Wirbel. Mir kam der Gedanke, dass Roberto und ich vermutlich die ersten Menschen waren, die das majestätische Schauspiel von diesem Punkt aus verfolgen konnten. Unwillkürlich spürte ich ein Gefühl von Privileg und Dankbarkeit, wie es Menschen oft empfinden, wenn sie in den Genuss eines Naturwunders kommen. Aber die Empfindung dauerte nur einen Augenblick. Ich hatte im Gebirge genug gelernt und wusste, dass diese Schönheit nicht für mich bestimmt war. Das gleiche Schauspiel hatten die Anden schon vor Jahrmillionen inszeniert, lange bevor die ersten Menschen auf der Erde lebten, und sie würden es auch weiterhin tun, wenn wir längst nicht mehr da waren. Mein Leben oder mein Tod hätte für sie nicht die geringste Bedeutung. Die Sonne würde untergehen, der Schnee würde fallen …
    »Roberto«, sagte ich, »kannst du dir vorstellen, wie schön das hier alles sein könnte, wenn wir nicht dem Tod ausgeliefert wären?« Ich spürte, wie seine Hand sich um meine schloss. Als Einziger verstand er, welch große Leistung wir vollbracht hatten und welch großes Vorhaben noch vor uns lag. Er hatte ebenso viel Angst wie ich, das wusste ich genau, aber unsere Nähe gab mir Kraft. Wir waren jetzt wie Brüder. Wir machten uns gegenseitig zu besseren Menschen.
    Am nächsten Morgen stiegen wir wieder die Stufen zum Gipfel hinauf. Roberto stand neben mir. Ich erkannte die Angst in seinem Blick, doch ich sah auch seinen Mut und verzieh ihm sofort alle Arroganz und Dickköpfigkeit der letzten Wochen. »Wahrscheinlich laufen wir in den Tod«, sagte ich, »aber lieber gehe ich ihm entgegen, als dass ich warte, bis er mich holt.«
    Roberto nickte. »Du und ich, wir sind Freunde, Nando«, sagte er. »Wir haben schon so viel zusammen durchgemacht. Jetzt wollen wir auch zusammen sterben.«
    Wir gingen zur westlichen Kante des Gipfels, ließen uns über die Kante gleiten und begannen mit dem Abstieg.

9
     
    »Ich sehe einen Mann...«
     
    Die höchsten Abschnitte auf der Westseite des Berges waren verschneit und sehr steil. Der Blick in die Tiefe, den vor uns noch kein Mensch getan hatte, ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Das Gefälle der Abhänge und die schiere, schwindelnde Höhe – wir kletterten den Wolken von oben entgegen – nahmen mir allen Mut, und ich musste mich zu jeder Bewegung zwingen. Als wir vom Gipfel geklettert waren, wurde mir sofort klar, dass der Weg bergab noch beängstigender werden würde als der Aufstieg. Auf einen Berg zu klettern, ist ein Kampf, ein Angriff, und jeder Schritt ist ein kleiner Sieg über die Macht der Schwerkraft. Der Abstieg dagegen hat eher etwas von Unterwerfung. Man kämpft nicht mehr gegen die Schwerkraft, sondern man bemüht sich, einen Tauschhandel mit ihr abzuschließen, und wenn man vorsichtig von einem heimtückischen Haltepunkt zum anderen hinuntersteigt, weiß man ganz genau, dass sie einen vom Berg in die blaue Leere des Himmels ziehen wird, sobald sie auch nur die kleinste Gelegenheit dazu bekommt.
    » Carajo! Ich bin ein toter Mann«, murmelte ich. »Was machen wir eigentlich hier?« Ich musste all meinen Mut zusammennehmen. Vorsichtig ging ich daran, mir den Weg über die Steilhänge unter dem Gipfel zu suchen. Die Steigung war so stark,

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