73 - Der Dukatenhof
Augenblick.“
„Paul heißt dein Sohn?“ Er nahm erst jetzt das vor ihm liegende Aktenheft zur Hand, um nach dem Namen der Nummer hundertneunzig zu sehen. „Du heißest Fährmann und bist aus Oberdorf? So! Bestraft bist du wohl noch nicht wegen eines Vergehens gegen die Hausordnung?“
„Nein, Herr Direktor. Ich will mir meine Lage nicht selber schwerer machen!“
„Daran tust du klug!“ seine Stimme hatte einen milderen, fast teilnehmenden Klang angenommen. „Und ebenso klug würde es sein, dich nicht von einer Täuschung übermannen zu lassen. Ich will die Kostentziehung für diesmal streichen; sieh' aber zu, daß du nicht wieder angezeigt wirst, und geh' jetzt an deine Arbeit!“
Er wurde abgeführt und durch eine Nebenpforte in den Garten gebracht, wo mehrere Genossen mit Arbeit an den Küchenpflanzen beschäftigt waren. Sie wurden von einem Militärpikett bewacht, da die Zahl der Aufseher nicht zur Beaufsichtigung so kleiner Abteilungen ausreichte.
Er trat mit ein und nahm die Hacke zur Hand. Aber bei allem Fleiß vermochte er nicht, den Ruf loszuwerden, der ihm in die Ohren gellte, als sei der Schuß jetzt eben erst gefallen. Er befand sich wie im Fieber und hätte am liebsten fliehen und nach Hause laufen mögen, um sich zu überzeugen, daß seinem Kind nichts geschehen sei.
Da wurde das Haupttor geöffnet, und ein leichter Federwagen fuhr aus demselben hervor. Oben am Graben gingen Leute vorüber, die beim Anblick des Wagens stehenblieben. Man konnte deutlich jedes Wort vernehmen, welches gesprochen wurde.
„Jetzt bringen sie das arme Kind“, meinte einer.
„Es muß den Vater drinnen in der Anstalt haben!“
„Konnte denn der Posten nicht merken, daß es nur ein Knabe war?“
„Es ist finster gewesen; da kann man nicht genau unterscheiden. Er hat natürlich keinen geringen Schreck gehabt, kann aber nichts dafür, da er schießen mußte. Die Kunde von dem Unglück war schon am frühen Morgen in der ganzen Stadt herum.“
Fährmann horchte auf. Also hatte er sich doch nicht getäuscht, ein Knabe war's gewesen! Doch wem gehörte er? Der Wagen schlug die Richtung nach der Straße ein, die nach Oberdorf führte. Es war niemand zu sehen als der Kutscher und der Aufseher, welcher auf dem Hintersitz Platz genommen hatte. Vor ihm lag ein Bett, und an der Seitenwand ragte der Lauf eines Gewehres empor. War es Wirklichkeit, oder täuschte ihn bloß seine aufgeregte Phantasie? Er glaubte keine militärische Waffe, sondern die Flinte zu erkennen, welche er seinem Knaben geschenkt hatte. Es wurde ihm wirblig vor den Augen, und er mußte das Pikett bitten, sich einen Augenblick niedersetzen zu dürfen.
Wie gern hätte er eine Frage ausgesprochen, doch es war bei Strafe verboten, über andere als Dienst- und Arbeitsangelegenheiten mit dem Soldaten zu reden. Diesem war der Gefangene nur ein Verbrecher, der die Strenge des Gesetzes zu empfinden hat; er fühlte sich daher nicht zur Teilnahme aufgelegt und forderte ihn baldigst auf, wieder an seine Arbeit zu gehen.
Als die Glocke das Zeichen zur Mittagsmahlzeit gab, wurde die Pforte geöffnet, und das Pikett lieferte die ihm Anvertrauten in das Innere der Anstalt ab.
„Was hast du für Strafe erhalten?“ begrüßte der Aufseher seinen Gefangenen. Er erhielt die dienstliche Benachrichtigung gewöhnlich erst am Nachmittag zugeschickt.
„Keine“, antwortete der Sträfling.
„Wirklich keine? Da hast du von großen Glücke zu reden!“
„Ich sollte Kostentziehung bekommen, aber der Herr Direktor hat sie wieder gestrichen, weil ich bisher noch keine Strafe erhalten habe und weil – Herr Aufseher, wer ist heute nacht geschossen worden?“
„Da fragst du mich zuviel; ich kann dir keine Antwort geben.“
„Nicht? Aber wenn ich Sie nun recht sehr dringlich bitte?“
„Auch dann nicht!“
„Dürfen Sie bloß mir nicht antworten?“
„Nicht dir allein, sondern jedem Gefangenen. Der Sicherheitsdienst ist ein verschwiegener; das mußt du auch wissen, und darum wundere ich mich, daß du überhaupt fragst.“
„So sagen Sie mir wenigstens, ob mich der Schuß wohl auch betroffen hat?“
„Dich? Wie kann er das? Er ist doch nicht auf dich gerichtet worden. Geh' jetzt in deine Zelle, und iß; das wird dir nötig sein; du siehst ganz armselig aus!“
„Essen? Ich kann nicht; ich habe an eine andere Sache zu denken!“
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, zog er den Strohsack herbei und warf sich auf das Lager, ohne den Napf, in
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