74 - Mein Leben und Streben
tun, wenn Sie hier sitzen und schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, daß wir andern das leben, was ihr Dichter schreibt. Wir sind, wie ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn ihr es seid; wir sind unsittlich, wenn ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach eurem Glauben oder eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder leichtfertig, wie es die Weiber sind, die ihr verherrlicht.“
Jörgensen hat hier vollständig recht. Seine Ansicht ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit größern, entweder schaffenden oder zerstörenden, reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie behauptet, nämlich ‚nicht Einzelwesen, Drama ist der Mensch‘, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohl bewußt bin, bin ich mir auch der Ungeheuern Verantwortung bewußt, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald wir zur Feder greifen. Sooft ich dieses letztere tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender nur Gutes, niemals aber Böses zu schaffen. Man kann sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr, daß ich im Verlage von H.G. Münchmeyer ‚abgrundtief unsittliche‘ Bücher geschrieben haben soll. Der Ausdruck ‚abgrundtief unsittlich‘ ist von Cardauns, dessen Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann alles nicht nur erwiesen, sondern ‚zur Evidenz erwiesen‘, nicht ausgesonnen, sondern ‚raffiniert ausgesonnen‘, nicht entstellt, sondern ‚bis zur Unkenntlichkeit entstellt‘. Darum genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort ‚unsittlich‘ nicht, sondern es war ganz selbstverständlich, daß sie gleich ‚abgrundtief unsittlich‘ sein mußten.
Die erste Spur von diesen meinen ‚Unsittlichkeiten‘ tauchte drüben in den Vereinigten Staaten auf. Kommerzienrat Pustet, welcher da drüben Filialen besitzt, schrieb mir von diesem Gerücht und wünschte, daß ich mich darüber äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, daß ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache untersuchen lassen werde, wenn es sein müsse sogar gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen. Damit war für ihn die Sache abgemacht. Er war ein Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es niemals eingefallen wäre, durch Hintertüren zu verkehren. Wir hatten einander gern. Auf ihn fällt ganz gewiß auch nicht die geringste Spur von Schuld an der unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus Amerika kam, hatte ich zunächst drüben zu recherchieren. Das erforderte lange Zeit, und es war mir unmöglich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte nur, daß sich das Gerücht auf meine Münchmeyerschen Romane bezog, doch fand ich niemand, der imstande war, mir die Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit lag. Und auf ein bloßes, vages Gerücht hin alle fünf Romane, also ungefähr achthundert Druckbogen nach Dingen, die ich gar nicht kannte, mühsam durchzuforschen, dazu hatte ich keine überflüssige Zeit, und das war mir auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich anzuklagen, der mußte die unsittlichen Stellen genau kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf wartete ich. Es meldete sich aber keiner, der es tat. Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die angeblichen Unsittlichkeiten ebensowenig als ich. Leider war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm meine Mitarbeiterschaft zum zweiten Mal aufzusagen. Das erstemal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. Dieser hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend gekürzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe Korrekturen und Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll mich so kennenlernen, wie
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