760 Minuten Angst
Gegenübers, um sie anzunehmen. Im selben Augenblick, als der Mann sie in die Senkrechte erhob, ließ Valentina den Brief fallen, der seelenruhig auf dem betonierten Weg zu ihren Füßen landete.
Sie brauchte ihn nicht länger.
Sie würde ihn nie mehr vergessen.
Emilie beschlich das ungute Gefühl, dass der heutige Nachhauseweg länger war als sonst, obwohl sich an der Strecke selbst nichts verändert hatte. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrer heutigen Kondition. Bereits in der Früh hatte sie sich schwach und ausgelaugt gefühlt. Wurde sie etwa krank? Bahnte sich eine Grippe an?
Oh nein. Ich darf jetzt nicht krank werden. Wer wird sich dann um den Haushalt kümmern?
Marie hatte sie heute bereits in der Schule darauf angesprochen. Auch da hatte Emilie vehement verneint, krank zu sein. Eigentlich mochte sie es gar nicht, andere Menschen vor allem aber ihre beste Freundin zu belügen, doch sie wollte Marie eben nicht beunruhigen. Dennoch fühlte sie sich schlecht deswegen.
Jeder neue Tritt in die Pedale raubte Emilie mehr und mehr ihrer übrigen geringfügigen Kraft. Schweiß tropfte von ihrer bereits glänzenden Stirn und ließ sie frösteln. Ab und an durchfuhr sie ein regelrechter Kälteschauer, der sie zusammenzucken ließ.
»Ich bin nicht krank. Ich werde nicht krank. Ich bin nicht krank. Ich werde nicht krank.«
Sie sagte diese beiden Sätze wie ein Mantra auf, als könnte sie dadurch die bereits vorhandenen Bakterien aus ihrem Körper vertreiben. Emilie wusste es besser, doch es hielt sie nicht davon ab, weiterzumachen.
Als wollte ihr Gott persönlich einen riesigen Stein vor die Füße werfen, tauchte zu allem Überfluss auch noch der steile Hügel kurz vor Matting auf. Emilie gab einen tiefen Seufzer von sich. Sie war mit den Kräften am Ende.
Nur Mut, Emilie! Das packst du schon. Danach geht’s bergab und dann bist du auch schon so gut wie Zuhause.
Sich selbst Mut zuzusprechen, half mehr, als sie geglaubt hätte. Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf ihrem porzellangleichen Gesicht ab. Neue Energie wanderte in ihre müden Beine und ließ sie neue Hoffnung schöpfen. Nicht mehr lange und sie war zu Hause.
Endlich zu Hause.
Ich parkte den unauffälligen Transporter auf der Straße wenige Schritte vor dem Haus mit der weißen, unscheinbaren Fassade. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken, das »Paket« gleich mit ins Innere zu nehmen, bis mir klar wurde, dass ich dafür ganz andere Pläne hatte.
Es wird schon nicht aufwachen und davonlaufen.
Ich konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Eigentlich wollte ich dabei keine Freude dieser Art empfinden, aber langsam keimte dieses unangenehme Gefühl vermehrt in mir auf. Ob ich es noch unter Kontrolle hatte?
Natürlich! Ich bin immer noch ich selbst und kein durchgeknallter Psychopath. Ich wusste von Anfang an, worauf ich mich einließ. Jetzt gibt es kein Zurück mehr!
Bevor ich die wenigen Stufen zur Eingangstür hinaufstieg, sah ich mich noch einmal um. Niemand war zu sehen. Gut so. Ich machte mir sowieso viel zu große Sorgen. Ich hatte dieses Haus aus gutem Grund ausgewählt. Niemand würde mir auf die Schliche kommen.
Ich zog den einzelnen Schlüssel aus meiner Hosentasche und öffnete die Haustür. Das Schloss hatte ich kürzlich erst ausgetauscht. Soviel Vorsicht musste sein. Ich hatte zwar jeden meiner »Gäste« anderweitig am Spazierengehen gehindert, aber man konnte ja nie wissen.
Die Tür fiel zurück ins Schloss und die Stille im Inneren umfing mich. Keiner meiner Gäste regte sich. Wahrscheinlich schliefen sie noch.
Perfekt. Ich habe nämlich noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, ehe ich mich mit ihnen beschäftigen kann. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir so viele Sorgen mache. Es läuft doch alles perfekt.
Und doch hatte ich das mulmige Gefühl, dass das wacklige Kartenhaus, das ich selbst erschaffen hatte, bald über mir zusammenbrechen würde.
Nun, lassen wir das Schicksal entscheiden.
Erneut entfleuchte mir ein leichtes Grinsen.
Diesmal genoss ich es.
18:10 Uhr, noch 742 Minuten bis zum Ende der Angst
Der Neupfarrplatz breitete sich vor ihr aus.
Der Weg dorthin hatte nur wenige Minuten gedauert und doch waren diese für Stella vollkommen ausreichend gewesen, um sich intensiv Gedanken um ihre geliebte Omi zu machen. Sie hatte furchtbare Angst um sie. Es durfte ihr einfach nichts passiert sein.
Ist ihr auch nicht … ganz sicher. Katie wird sie bestimmt finden und mich übers Telefon beruhigen. Ganz
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