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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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»Wieso?«
    »Na ja, sie kämpft manchmal richtig mit den Tränen. Ist es bei so viel Mitleid nicht sehr schwer, diesen Job zu machen?«
    Hedi hielt inne, bevor sie auf den Knopf am Schlüssel drückte. Die Zentralverriegelung klackte.
    »Manche Betroffenen würde Agi am liebsten erlösen«, plapperte ich absichtlich achtlos weiter, während ich den Koffer hinter Hedi her zur Haustür schleifte. Wär doch gelacht, wenn ich die geduldige Hedi nicht ein bisschen provozieren konnte. So was konnte sie kaum unkommentiert stehen lassen.
    »Für Agi ist es im Augenblick schwierig!«, platzte Hedi auch prompt heraus. Die große Frau wirbelte zu mir herum, statt die Haustür zu öffnen.
    »Für uns andere doch auch«, konterte ich nervend naiv.
    »Agi hat letztes Jahr erst ihren Mann verloren«, verteidigte Hedi ihre Kollegin.
    Ach ja.
    »Davon hat sie mir erzählt«, bestätigte ich.
    »Bauchspeicheldrüsenkrebs.«
    Na bitte, ich hatte Hedi zum Reden gebracht.
    »Es passiert uns allen, dass Menschen uns bitten, ihnen beim Sterben behilflich zu sein. Aber wenn es der eigene Mann ist, den man leiden sieht, ohne helfen zu können, ist das etwas ganz anderes. Da kommt Agi nicht einfach drüber weg«, erklärte Hedi nachdrücklich und hielt mir die Haustür auf. »Da beschäftigt es sie natürlich, dass sich einige Patienten ebenfalls nach dem Tod sehnen. Die kranken Menschen konfrontieren uns ja knallhart damit, das Thema ist Alltag in unserem Job. Wer als Pflegender eine private Krise erlebt, schafft es nicht immer, den notwendigen Abstand zum Beruf zu halten. Wir sind schließlich auch Menschen.«
    Wahrscheinlich hatte sich jede Altenpflegerin schon mit dem Thema Sterbehilfe auseinandergesetzt, begriff ich. In diesem Beruf konnte das kaum ein Tabu sein. Womöglich gab es das Fach sogar in der Berufsschule.
    Und die Pflegerinnen waren durchaus in der Lage, diese Hilfe zu leisten. Ich erinnerte mich, wie selbstverständlich die Patienten Medikamente und Injektionen hinnahmen.
    Ein plötzliches Frösteln kroch meine Oberarme hinauf. Agis verstorbener Mann hatte sie darum gebeten, sein Leben zu beenden. Konnte es wirklich sein, dass sie ihm diesen Wunsch verwehrt hatte?
    »Eine empathische Grundeinstellung ist einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiche Kommunikation. Für die nonverbale Verständigung mit schwerstdementen Menschen umso mehr«, erläuterte mir Hedi Sundermann fröhlich, während ich schweigend den schweren Pflegekoffer die Treppe hinaufwuchtete. Wir besuchten nun die bettlägrige Frau Schiller.
    »Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können – das muss man natürlich wollen, sich darum bemühen und echtes Interesse an den Menschen haben. Die Biografiearbeit ist eine wichtige Hilfe, vor allem bei schweren Fällen, die wie Frau Schiller ihre Sprache bereits vollständig verloren haben.«
    »Wie findet man denn etwas über die Biografie heraus, wenn die Menschen nicht mehr sprechen können?«, wollte ich ächzend wissen.
    »Man kann zum Beispiel die Angehörigen fragen«, klärte Hedi mich auf.
    Ach so. Wie Privatdetektive das auch zu tun pflegten. Hätte ich auch selbst drauf kommen können.
    »Frau Schiller hat mit Anfang zwanzig einen weitaus älteren Mann geheiratet, sie haben einen Sohn bekommen. Ihr Mann ist schon vor fünfzehn Jahren verstorben. Danach lebte Frau Schiller allein und galt als schwierig. Sohn und Schwiegertochter hatten kaum Kontakt zu ihr, sie hatten sich zerstritten. Der Sohn ist gelernter Maler, im Winter meist arbeitslos, Geld ist immer knapp. Als die Alzheimer-Diagnose gestellt wurde und das Amt vom Sohn einen Zuschuss zum Pflegeheim kassieren wollte, haben Sohn und Schwiegertochter die Mutter zu sich genommen. Jetzt bekommen sie Pflegegeld. Eine reichlich schwierige Situation, der Sohn arbeitet, die Schwiegertochter soll, mit ein wenig Unterstützung von uns, pflegen. Dass die nicht begeistert darüber ist, sieht man auch ohne große empathische Begabung.«
    Die Pflegerin klingelte kurz und öffnete gleich darauf die Wohnungstür mit dem Schlüssel des Pflegedienstes. Wie schon beim letzten Besuch quollen uns Zigarettendunst und Uringeruch entgegen.
    »Guten Tag, Frau Schiller«, rief Hedi im Vorbeigehen in die Küche. Der Raum war voll Qualm, man konnte beinahe befürchten, dass es brannte. Ich hörte eine brummige Antwort.
    Im Zimmer der hilflosen Frau Schiller senior verstärkte sich der Gestank auch heute. Hedi trat ans Fenster, zog die

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