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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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Film.
    »Das bewegte Bild kann dem gedächtnisgestörten Menschen in Sekunden Eindrücke vermitteln, was man mit Worten nicht schafft. Und bei Frau Kaminski siehst du genau, dass sie sich an eigene Katzen erinnert und dass das gute Gefühle bei ihr auslöst.«
    Ich hätte schwören können, dass die alte Frau mit den Silberringen die Lippen bewegte, als führte sie ein Selbstgespräch.
    Hm. Ich beugte mich kurzerhand vor, hielt mein Ohr dicht hinter ihren Kopf, was sie nicht bemerkte. Ganz leise hörte ich ihre dünne Stimme.
    »Miezmiezmiezmiezmiez«, war es, was sie die ganze Zeit vor sich hin murmelte.
    Abgefahren.
    »Pass auf«, Agi holte aus einer Tasche unter ihrem Stuhl eine Stoffkatze. »Das Material ist hochwertig, fast wie echtes Fell.«
    Sie setzte den Plüschtiger behutsam auf Frau Kaminskis Schoß. Automatisch begann die alte Frau das Stofftier zu streicheln, von vorn nach hinten glitten ihre schlanken Finger mit einer geübten Bewegung durch das Fell, die zweite Hand kraulte unter dem Kinn. Sie lächelte.
    Agi lächelte ebenfalls, fiel mir auf. Erst dann bemerkte ich, dass auch ich selbst mitgelächelt hatte.
    Und ich verstand allmählich, was Agi und Hedi mit Empathie meinten, was bedeutete, mit den alten Menschen mitzufühlen.
    »Sie hat keine Ahnung, wer sie ist, wo sie ist oder warum«, sagte Agi leise. »Trotzdem glaube ich, sie ist glücklich. Jetzt gerade, in diesem Moment.«
    Im Halbdunkel des Raumes betrachtete ich die alte Frau. Ihre aufrechte Sitzhaltung, die Falten, die ihr schmales Ge sicht wie ein Spinnennetz überzogen, die große, gerade Nase, die sie erhoben hielt, die kurz geschnittenen, fast weißen Haare. Bei genauer Betrachtung verriet ihr Aussehen eine gewisse Sturheit, fand ich. Und die machte die Greisin auf eine verwirrende Art schön. Ihre wasserhellen Augen sahen in diesem Augenblick eine andere Welt und trotzdem erkannte ich, dass Agi Friedlich recht hatte.
    Frau Kaminski war glücklich. Es war das beruhigende Geräusch der schnurrenden Katze, die vertraute Berührung des weichen Fells, winzige Kleinigkeiten, die für sie Glück bedeuteten. Jetzt gerade, in diesem Moment.
    Ich spürte eine Gänsehaut meine Oberarme hinaufkriechen und schlang instinktiv die Arme um meinen Körper, als ich begriff, was Agi Friedlich hier tat.
    »Ich glaube, das Leben kann auch mit einer solchen Erkrankung lebenswert sein«, flüsterte Agi.
    Ich musste zweimal hinsehen, bevor ich mir sicher war, im Flimmerlicht des Fernsehers Tränen hinter Agis Brille glitzern zu sehen. Ich stutzte und mein detektivisches Misstrauen verscheuchte mein Staunen über Agis Nächstenliebe.
    Hatte Agi Friedlich mehr Mitleid mit den Betroffenen, als gesund für diese war?
    Tag 28
    BELLAS BLOG:
    DONNERSTAG, 17.01 UHR
    Habe es eben noch mal gelesen. Den Text von gestern Nacht. Gelesen klingen Marios Worte schlimmer. Viel schlimmer, als wenn man sie hört. Ich bin entsetzt. Dass ich mir das gefallen lasse. Dass es mir überhaupt nicht bewusst war. Wie er mit mir spricht.
    Ich glaube, ich höre schon lange nicht mehr hin.

18.
    »Agi hat mir erzählt, du möchtest was über Demenz lernen. Allerdings werden wir für die Tour ein wenig länger brauchen, wenn ich dir das ausführlich erkläre.« Hedi Sundermann parkte den Dienstpolo vor dem Wohnblock, aus dem Pippi Langstrumpf auszog.
    Ich unterdrückte ein Seufzen und lächelte Hedi so erfreut an, wie es beim Ausblick auf eine Endlostour in einem kopfschmerzverursachend nach Altweiberparfüm stinkenden Auto möglich war.
    Ich fühlte mich scheiße. Der Zoff mit Danner irritierte mich, auch wenn ich mir einredete, dass unsere Beziehung ja sowieso keine Zukunft hatte. Und die alte Angst vor meinem Vater entwickelte sich zur Psychose. Ich sah verheult aus, obwohl ich nicht geweint hatte, und ich hatte keine langen Haare mehr, hinter denen ich mein Gesicht verstecken konnte. Allerdings hatte Hedi Spätdienst und je später ich zu Hause sein würde, umso weniger Zeit hatte Danner, unangenehme Fragen zu stellen. Obwohl meine Hoffnung, dass Claudius in nächster Zeit platzen und sich in Luft auflösen würde, sicherlich nicht realistisch war.
    »Wär lieb von dir, wenn du wieder den Koffer nehmen würdest, man ist ja doch nicht mehr die Jüngste«, lächelte Hedi milde zurück.
    Ich knirschte mit den Zähnen. »Agi geht das Schicksal der Patienten ziemlich nahe, oder?«, fragte ich drauflos, damit die Quälerei sich wenigstens lohnte.
    Hedi warf mir einen stirnrunzelnden Blick zu:

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