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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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desorientierten Phase bleibt schwierig. Außerdem sind die Angehörigen oft mit ihren Nerven am Ende.«
    Hedi hatte recht, der Umgang war schwierig. Bei besagtem Herrn Lauscher handelte es sich nämlich um den grapschenden Opa, der mir von meiner ersten Tour mit Hedi unangenehm in Erinnerung geblieben war.
    »So was siehst du nicht jeden Tag, wa?«, protzte der zugegebenermaßen gut bestückte Alte, als Hedi ihm die Hose herunterzog und ihn aus seinem Rollstuhl auf einen fahrbaren Toilettenstuhl hinübersetzte. Offenbar war ihm nicht klar, dass Hedi ihm jeden Tag aufs Klo half und deshalb über die Ausmaße seines besten Stückes bereits informiert war. Der Opa war wesentlich kleiner als seine Pflegerin, stark untersetzt, mit rotem Kopf und gelben Haarbüscheln darauf.
    Erst jetzt begriff ich, dass der Gewohnheitsgrapscher mit seiner Anmache nicht wirklich Hedi meinte. Auch er lebte in Erinnerungen. Er sah in Hedi eine Person aus seiner Vergangenheit, während er auf dem Toilettenstuhl an seinem Schwanz herumfummelte.
    Boah, dass Hedi vielleicht gar nicht gemeint ist, macht die Sache ja nicht besser, überlegte ich. An wem hat sich das alte Schwein wohl früher aufgegeilt?
    Während Hedi bei allen anderen Patientinnen keine Skrupel hatte, mich beim Waschen, Anziehen und Füttern einzuspannen, ließ sie mich bei Herrn Lauscher von der Couch aus zusehen.
    Wahrscheinlich hatte sie in meinem Gesicht gelesen, dass das für alle Beteiligten das Beste war. Denn ich hätte seine Sprüche nicht unkommentiert hinnehmen können. Und ich hätte mich von dem alten Sack auch nicht mit den Worten: »Bist ja doch noch knackig, altes Mädchen«, in den Hintern kneifen lassen.
    Bäh! An meine Backpfeife hätte der sich morgen noch erinnert, Demenz hin oder her.
    Hedi hingegen zog ihr Programm stur durch. Den Blick hielt sie konzentriert auf die Füße vom Fummelfranz gerichtet, vor denen sie kniete, um seine Jogginghose gegen den Pyjama zu tauschen. Sie vermied jeden Augenkontakt, um keine weiteren Anzüglichkeiten herauszufordern.
    Also ich könnte das nicht, erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter.
    Ich auch nicht, wurde mir klar.
    Nicht weil ich Probleme damit hatte, Windeln zu wechseln wie meine Mutter. Das machte mir nichts aus, das hatte sich ja bereits herausgestellt. Sondern weil auch Ekelerreger wie Herr Lauscher Hilfe brauchten.
    Jeden Tag wieder hinzufahren, sich jeden Tag wieder zu kümmern und dabei auch noch Interesse aufzubringen für Menschen, die man lieber nicht kennen würde. Und das womöglich über Jahre, das war das wirklich Schwierige an dem Beruf. Bei allem Zeitdruck nicht in ein gleichgültiges ›Fertigwerden‹ wie Janine Hinze zu verfallen, sondern jeden Tag erneut Verständnis aufzubringen, sich fortzubilden, um den Menschen ihr Leben durch Kleinigkeiten angenehmer zu machen, wie Hedi es tat, unermüdlich, das war bewundernswert.
    »Ist ja wohl echt peinlich, der alte Rammelmeister«, knurrte ich, während ich den Pflegekoffer wieder ins Auto wuchtete.
    »Ach«, winkte Hedi ab, »das gehört eben auch zum Krankheitsbild, dass das Schamgefühl verloren geht.« Sie setzte sich ins Auto und klappte die Tür zu.
    Nee, das sah ich anders. Was zu viel war, war zu viel. Ich an Hedis Stelle hätte dem grapschenden Greis schnell und unhöflich seine Grenzen gezeigt.
    Für einen Sekundenbruchteil ahnte ich, wie es zu Gewalt in der Pflege kommen konnte.
    Tag 31
    BELLAS BLOG:
    SONNTAG, 13.56 UHR
    Die Dieter-Krise ist zu Ende.
    Halleluja!
    Und auch Mario hat sich beruhigt. Seit Mittwoch habe ich mich nur einmal mit Sina getroffen, um klarzustellen, dass Mario an besagtem Mittwochabend genervt war. Und sich selbstverständlich entschuldigt hat. Seitdem habe ich ihm regelmäßig Essen serviert. Also etwas Essbares. Mehr oder weniger. Prompt ist er wieder handzahm.
    Dieter dem Dämlichen konnte ich nebenbei nicht unter die Arme greifen. Bei der Rettung seiner Beziehung. Aber siehe da: Plötzlich sind Sina und Dieter in der Lage, sich selbstständig zu versöhnen.
    Besser: Sie haben sich tatsächlich verlobt! Wunder gibt es immer wieder. Na ja, oder auch nicht. Denn diese glückliche Wendung ist natürlich nicht Dieters Verdienst.
    Sina hat sich entschlossen, Dieter zu verzeihen. Wie immer. Doch dieses Mal hat sie ihm einen Antrag gemacht. Die Haare hat sie sich auberginefarben getönt. Zur Feier des Tages. Und sich ein Schlauchkleid gekauft. Auch auberginefarben. Und zu eng. Den Ring hat sie ihm in den Wein

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