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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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Vorhänge auf und kippte die Scheibe an, um Frischluft hereinzulassen.
    Das schmale Gesicht der im Kissen versunkenen Frau veränderte sich nicht. Die Augen hielt sie geschlossen.
    »Patienten im letzten Stadium der Demenz, wie Frau Schiller, haben sich komplett in ihre eigene Welt zurückgezogen. Sie vegetieren bis zu ihrem Tod vor sich hin, was aber unter Umständen Jahre dauern kann«, erklärte mir Hedi ruhig. »Mit Worten allein würde ich kaum zu ihr durchdringen, die Sprache hat für sie völlig ihre Bedeutung verloren.«
    Hedi trat an das Bett und beugte sich zu der alten Frau hinunter: »Meine Stimmlage, Sprechrhythmus und das Gefühl, das ich ihr dabei vermittele, versteht sie schon eher«, fuhr sie in fröhlich-blödem Krankenschwestertonfall fort. »Ich vergesse einfach mal meine eigene Laune und wende meine Aufmerksamkeit ganz Frau Schiller zu. Ich sehe sie mir genau an und versuche in ihrem Gesicht abzulesen, wie es ihr heute geht. Mit meinem Gesicht ahme ich ihren Gesichtsausdruck nach – ich spiegele ihre Miene –, um ihr zu zeigen, dass ich ihre Gefühle erkenne. Da Frau Schiller mich aber offensichtlich noch immer nicht wahrgenommen hat, werde ich sie mit einer Berührung auf mich aufmerksam machen.«
    Behutsam nahm Hedi die knochige, von Injektionen zerstochene Hand der Patientin.
    »Auch mit Berührungen kann ich Zuneigung zeigen und Erinnerungen auslösen«, erklärte Hedi und streichelte der alten Frau über die Wange wie einem kranken Kind.
    Tatsächlich kam es mir vor, als hätte Frau Schiller den Kopf ein klitzekleinwenig in Hedis Richtung gewandt.
    »Weil ich aufmerksam bin, merke ich, dass Frau Schiller mich gehört hat.« Hedi schien ehrlich erfreut.
    Und tatsächlich öffnete die Patientin die Augen. Frau Schiller blickte Hedi mit zur Seite geneigtem Kopf an. Die große Pflegerin erwiderte den Blick lächelnd mit ebenfalls geneigtem Kopf.
    »Wir verstehen uns auch ohne Worte, nicht wahr?«
    Ich staunte.
    »Meine Kollegin scheint uns nicht recht zu glauben, dass wir uns so gut verstehen«, erklärte Hedi der Patientin belustigt, und mir wurde klar, dass Hedi nicht nur in Frau Schillers Gesicht las, sondern ganz nebenbei auch in meinem.
    Verdammt, sie war gut darin.
    »Zeigen wir Liliana mal, dass es stimmt«, zwinkerte die Pflegerin der bettlägerigen Frau zu.
    »Frau Schiller?«, rief sie laut in Richtung Flur.
    Es dauerte einen Moment, bis sich schlurfende Schritte näherten. Die Tür ging auf und die Schwiegertochter latschte herein: »Wat is?«
    Zum ersten Mal war die Schiller junior aus dem Rauch herausgetreten, sodass ich sie deutlich sehen konnte. Busen und Bauch bildeten drei Wölbungen unter dem fleckigen Pullover, auf den ihre Haare strähnig herunterhingen. Zwischen dem blätternden, roten Lack ihrer Fingernägel klemmte die Zigarette, deren aufsteigender Rauch sie bereits wieder in Nebel hüllte. Sie hätte auch gut auf einem Schrottplatz sitzen und alte Autoteile verhökern können.
    »Die Einlagen Ihrer Schwiegermutter sind alle. Denken Sie bitte dran, neue zu bestellen?«
    Die Schwiegertochter brummte eine unverständliche Antwort und schlappte wieder hinaus.
    Bereits als die Frau hereingekommen war, hatte Frau Schiller senior die Augen geschlossen.
    Hedi hatte vollkommen recht.
    »Es gibt verschiedene Gründe für eine Desorientierung. Natürlich wird das Gedächtnis im Alter etwas schlechter. Medikamente können das noch begünstigen. Dann gibt es die bekannten Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson. Oder man kann im Laufe seines Lebens selbst seine Hirnfunktion beeinträchtigen wie Herr Lauscher, unser nächster Patient. Auch mit ausreichend Drogen und Schnaps kann man eine Gedächtnisstörung hervorrufen.«
    »Sind denn alle alten Menschen desorientiert?«
    »O nein«, Hedi lachte. »Die Demenzbehandlung ist sozusagen mein Spezialgebiet. Deshalb teilt mir Anna die Patienten dementsprechend zu. Andere behandeln lieber neurologische Patienten, mit Querschnitt oder nach Schlaganfall oder mit multipler Sklerose, wie Frau Schröder. Allerdings steigt die Zahl der Demenzpatienten. Agi und Ingo beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema und Anna springt oft mit ein. Wenn du wirklich Interesse hast, dich in diese Richtung weiterzubilden, kann Anna der Chefin bestimmt ein paar Fortbildungen für dich abschwatzen. Aber überleg dir das gut. Die Arbeit ist spannend, aber auch anspruchsvoll, man braucht Interesse und viel Geduld, und der Umgang mit Menschen in einer

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