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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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nur schlimmer gemacht. Zu Hause würde es ihm sowieso leidtun. Entschuldigend zuckte ich die Schultern in Sinas Richtung.
    Sina fuhr sich mit dem Finger quer über den Hals.
    Ich grinste gezwungen. Und eilte Mario hinterher.
    Tatsächlich entschuldigte sich Mario. Als wir zu Hause waren.
    Anders geht es nicht. Würde ich mich genauso schnell aufregen wie Mario, hätte ich ihm heute den Hals umgedreht.
    So haben wir uns wieder vertragen. Sind zusammen ins Bett. Mit Gutenachtkuss. Er ist sofort eingeschlafen. Als wäre nichts gewesen.

17.
    Nach dem Streit mit Danner bin ich mal wieder weggelaufen.
    Allerdings nicht, um fluchtartig in den nächstbesten Zug zu springen und die Stadt zu verlassen. Ich beschränkte mich darauf, zum zweiten Mal an diesem Tag aus der Wohnung zu stürmen.
    Ich konnte nicht über Claudius reden. Und über meine Eltern erst recht nicht. Ich wollte mich nicht erinnern. Und Danner sollte nicht sehen, woher ich kam. Wie kaputt ich war. Es durfte gar nicht erst eine Verbindung entstehen zwischen meinem alten Leben und meiner neuen Welt hier in Bochum.
    Ging ich Danner aus dem Weg, hatte er keine Gelegenheit zu fragen. Den Kopf möglichst tief in den Sand stecken und das Problem konsequent ignorieren, lautete meine Strategie.
    Gerade noch rechtzeitig war mir Agis Angebot eingefallen. Um neunzehn Uhr dreißig betreute sie diese Therapiegruppe im Haus am Garten.
    Deshalb stand ich um neunzehn Uhr neunundzwanzig in der Eingangshalle der Seniorenresidenz vor einem modernen Tresen aus dunklem Holz, über den hinweg mich eine Empfangsdame mit weißgrauer Prinz-Eisenherz-Frisur streng anblickte.
    »Mein Name ist Ziegler. Ich möchte bei der interaktiven Demenztherapie von Frau Friedlich hospitieren«, erläuterte ich der Dame, so sachkundig ich konnte. Sie blickte misstrauisch unter ihrem schnurgerade geschnittenen Pony her wie aus dem Visier eines Ritterhelms. Doch wider Erwarten erklärte sie mir den Weg durch die mit unempfindlich grau gemustertem PVC ausgelegten Flure zum Fernsehraum, wo die Veranstaltung stattfand.
    Agi winkte mich erfreut herein, als ich mit der Nase an der Glastür in den abgedunkelten Raum auf Station 1 im Erdgeschoss spähte.
    Leise schloss ich die Tür hinter mir. Fünf Bewohner der Einrichtung saßen mit Agi zusammen an u-förmig zusammengeschobenen Tischen. Zwei der Senioren in klobigen Rollstühlen. Eine kleine Tischlampe und das Flimmerlicht eines Fernsehers erhellten den Raum dürftig.
    Ich runzelte die Stirn. Sah so etwa ihre hochwissenschaftliche interaktive Therapie aus? … Die alten Leute wurden eine Stunde vor die Glotze gesetzt.
    Ich hockte mich auf einen Stuhl an der Wand hinter Agi. Die Pflegerin war in Zivil. Wieder trug sie eine geblümte Bluse und eine graue Stoffhose. Beides hätte den Bewohnern des Seniorenheimes ebenfalls gut gestanden.
    Agi strahlte über das ganze, runde Gesicht und rückte ihren Stuhl ein wenig nach hinten, neben mich.
    »Ich hatte nicht geglaubt, dass du wirklich kommst!«, flüsterte sie, während die vermutlich Demenzkranken wie hypnotisiert auf den Fernseher starrten.
    Es lief ein Film über – sollte ich mich wundern? – Katzen!
    Tatsächlich zeigte der Film eine Katzenmutter mit vier kleinen Kätzchen, die in einem Körbchen tollten. Mehr nicht. Das Bild verwirrte mich. Es gab keine schnellen Schnitte, bei denen die Bildeinstellung verändert wurde, und anscheinend auch keine Handlung. Statt mit dramatischer Hintergrundmusik wurde das Bild von lautem Schnurren untermalt. Die Szene dauerte mittlerweile bestimmt drei Minuten und noch immer putzte sich die Katzenmutter im Körbchen.
    »Der Film ist extra für Menschen mit Orientierungsschwierigkeiten gemacht worden«, erklärte mir Agi flüsternd. »Einem normalen Film mit schnellen Szenen und einer schwierigen Handlung können Demenzkranke nicht folgen. Bei diesem Film geht es nicht darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern die Gefühle anzusprechen, Erinnerungen auszulösen. Viele Menschen hatten mal eine Katze und kennen das Gefühl, das weiche Fell zu streicheln, das warme Geräusch des Schnurrens.«
    Sie deutete auf die Frau, die rechts vor uns saß. »Bei Frau Kaminski siehst du es zum Beispiel genau. Sie ist normalerweise komplett in ihrer eigenen Welt versunken, hat seit Wochen nicht gesprochen, keine Reaktion gezeigt.«
    Jetzt saß die alte Dame mit den eisgrauen Haaren und den Silberringen an den Fingern aufmerksam aufgerichtet auf ihrem Stuhl und folgte gebannt dem

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