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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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Zimmer. Lovis schleppte sich zum Fenster und sah, wie die Nachbarin von gegenüber ihr BMW-Cabrio in eine Parklücke drechselte und danach beladen mit zwei vollen braunpapierenen Einkaufstüten einer Nobel-Biokette auf das Haus zustöckelte. Ein alter Mann mit Hund blieb stehen und sah der Frau nach. Sie hatte nicht nur ein schönes Auto, sie hatte auch einen schönen Hintern. Und bestimmt stotterte sie nicht.
    Mit acht, neun Jahren war das Stottern am schlimmsten gewesen. Sobald er sich damals auch nur ein bisschen aufregte, kam kein vernünftiger Ton mehr über seine Lippen. Was hatten sie ihn deshalb in der Schule ausgelacht! Deshalb schickte ihn Gustav zweimal die Woche zu Frau Wittkämper. Eine dürre Alte mit Adlerblick, die so durchdringend gucken konnte, dass Lovis immer glaubte, er würde vollkommen nackt vor ihr stehen. Als könnte sie seinen geheimsten Gedanken lesen. Entspannungsübungen, Atemübungen, Sprechübungen. Irgendwann begann er mitzumachen, weil er so schnell wie möglich den Klauen dieser Frau entgehen wollte. Es half. Das Stottern ließ nach. Als er ins Gymnasium kam, hörte keiner mehr, dass er mal gestottert hatte. Und von seinen neuen Klassenkameraden wusste niemand davon, nicht mal Nils.
    Der war noch nicht aufgetaucht, aber er hatte heute Fußballtraining, wahrscheinlich kam er danach. Gustav war auch noch nicht zurück, er hatte ja gesagt, dass es spät werden würde. Bei Doktor Krause war Lovis nicht gewesen, er war überhaupt nicht vor die Tür gegangen. Hey, was sollte der Doc schon sagen? Die hatten ihn doch im Krankenhaus gründlich durchgecheckt, warum sollte er sich die Tortur zweimal antun. Und was das Stottern betraf, da konnte ihm sein Arzt eh nicht helfen.
    Auf dem Bett lag seine Gitarre. Vorhin hatte er ein bisschen herumgeklimpert. Als er in der Kiste unter seinem Bett nach den Noten zu »Jennifer« gesucht hatte, war ihm seine alte Zaubertafel in die Hände gefallen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl! Die hatte er während seiner Stotterer-Phase benutzt, wenn er überhaupt nicht reden wollte. Sogar der spezielle Stift fand sich in der Kiste. Zum Glück auch die Noten zu »Jennifer«. Gitarre stimmen, Griffe üben, das ging so grade mit der malträtierten Hand. So schwer war das Stück nicht. Bald klangen die Akkorde flüssig und er summte leise die Melodie. Den Text probierte er erst gar nicht zu singen. Ihm wurde heiß und kalt, wenn er an sein Gestackse vorhin am Telefon dachte. Hatte er Jennys Mutter am Telefon gehabt? Egal, telefonieren konnte er knicken. Und Nils würde er die Tür nicht aufmachen. Er war nicht da. Ihn gab es nicht. Das behinderte Häufchen Elend, zu dem er geschrumpft war, zählte nicht.
    Er schleppte sich zu seinem Bett, griff nach der Fernbedienung, warf die Glotze an und zappte sich durch die Programme. Überall nur Scheiß. Egal. Er war zu gerädert, um sich zu etwas anderem aufzuraffen.
    Als er hörte, wie sich der Haustürschlüssel im Schloss drehte, schreckte er aus einem dösigen Halbschlaf auf. Zehn vor zehn zeigte der Wecker neben seinem Bett. Gustav war zurück.
    Â»Schau mal, wen ich an der Haustür getroffen habe«, rief er aus dem Flur.
    Nils, schoss es Lovis durch den Kopf, und keine drei Sekunden später stand dieser in seinem Zimmer. Frisch geduscht, ausgepowert. Kerngesund.
    Â»Sorry, ging nicht früher, Alter. Wir mussten noch die Mannschaftsaufstellung für das Spiel am Samstag durchgehen.« Nils ließ sich zu ihm aufs Bett plumpsen. »Mann o Mann! Du siehst ja wirklich verboten aus.«
    Gustav steckte ebenfalls den Kopf ins Zimmer und sagte: »Ich war beim Chinesen und habe glasierte Ente und Wan Tans mitgebracht. Habt ihr Hunger?«
    Lovis schüttelte schnell den Kopf, doch Nils meinte: »Aber immer.«
    Wenig später brachte Gustav ein Tablett mit Pappschachteln des Chinaimbisses, Stäbchen, Wasser und Apfelsaft und stellte es neben dem Bett ab. Er warf Lovis einen besorgten Na-wie-geht’s-Blick zu. Lovis nickte hastig. Er wusste, dass sein Vater ein paar Worte von ihm hören wollte. Aber den Gefallen tat er ihm nicht.
    Â»Dann lass ich euch mal allein!«, sagte Gustav nach ein paar quälend langen Sekunden, in denen keiner den Mund aufmachte. »Wenn ihr noch was braucht, gebt Bescheid.«
    Nils öffnete eilig die Pappschachteln, griff sich eine davon und pickte gierig die erste Teigtasche

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