8 Tage im Juni
heraus. Sport machte hungrig. Keiner wusste das besser als Lovis. Wann würde er wieder laufen können? In einer Woche? In zwei? Wenn er beim Halbmarathon im September dabei sein wollte, musste er schnell sein Training wieder aufnehmen.
»Jetzt erzähl mal! Was ist passiert?«, fragte Nils zwischen zwei Teigtaschen.
Bisher war Lovis mit Kopfschütteln und Nicken durchgekommen, aber jetzt brauchte er Worte. Worte, die ganz und klar in seinem Kopf waren, die sein Mund aber zu einem stümperhaften Gestammel verhunzte. Ich werde nicht stottern, beschloss er. Er schälte sich aus dem Bett und schlurfte zum Schreibtisch, wo er die Zaubertafel abgelegt hatte. »Ich kann nicht sprechen«, schrieb er und hielt Nils die Tafel hin.
»Wow«, sagte der und verschluckte fast eine Wan Tan. »Das ist ja krass! Luftröhrenschlag oder was?«
»Schock«, schrieb Lovis.
»Und wie �«, fragte Nils vorsichtig.
Lovis schrieb mal wieder in Stichworten die Geschichte des vorgestrigen Abends auf und genoss es, sie gleich, nachdem Nils sie gelesen hatte, wieder von der Zaubertafel zu löschen.
»Drei gegen einen? Wie unfair ist das denn? Na, den feigen Hunden würde ich gerne mal die Fresse polieren.«
Lovis verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. Bei »den feigen Hunden« hätte auch ein Typ wie Nils keine Chance gehabt. Gut, vielleicht wäre der so clever gewesen und abgehauen. Wieso hatte er das nicht getan? Lovis verstand immer weniger, weshalb er sich so blind hatte überrollen lassen. Aber wer konnte schon im Vorhinein sagen, wie er in einer Extremsituation reagieren würde?
»Aber das mit dem Sprechen kommt doch wieder ins Lot?«, fragte Nils so, als ob es sich dabei um eine Erkältung handeln würde.
Lovis zuckte mit den Schultern.
»Echt krass. Das ist so was von krass!«
Nils betrachtete ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Mitleid. Mitleid war das Allerletzte! Mitleid hatte man mit Armen und Krüppeln. Mitleid war was für Loser. »Besser, du gehst jetzt«, schrieb Lovis auf die Zaubertafel.
Ein überraschter Blick von Nils und noch zwei eilig heruntergeschlungene Teigtaschen.
»Kannst die Ente mitnehmen«, schrieb Lovis.
»Sprachverlust, das ist echt krass«, meinte Nils beim Aufstehen. »Müsste ich wahrscheinlich auch erst mal alleine auf die Kette kriegen. Aber ich bin für dich da, Alter! Kann ja jetzt quatschen, ohne dass du mir widersprichst!« Nils versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. »Soll ich dir morgen die Hausaufgaben vorbeibringen? Als Ablenkung oder so?«
Hausaufgaben! Schule! Himmel, war das weit weg. Das interessierte ihn nicht die Bohne. Aber Lovis verstand Nilsâ Botschaft: »Ich bin dein Freund und lass dich nicht im Stich, nur weil du nicht sprechen kannst.« Galt das auch noch, wenn Nils ihn zum ersten Mal stottern hörte? Egal, das war jetzt nicht wichtig. Hausaufgaben, von mir aus! Lovis nickte, weil er Nils den Abgang erleichtern wollte. Als er wenig später die Haustür ins Schloss fallen hörte, schlurfte Lovis zurück zum Bett. Die Wan Tans hatte Nils nicht aufgegessen, die Ente nicht mitgenommen. Gar nichts hatte er mitgenommen bis auf den verstörenden Eindruck von einem Freund, der nicht mehr der Alte war.
Lovis schlüpfte unter die Bettdecke und löschte das Licht. Er wollte vergessen, alles vergessen. Hineingleiten in einen tiefen Schlaf und dann gesund aufwachen. Ohne zerschlagenes Gesicht und mit einer Stimme, klar und kräftig wie die von Campino oder samten wie die von James Blunt.
Aber der Schlaf wollte nicht kommen, stattdessen kam Gustav. Er brachte aus dem Flur einen breiten Lichtstrahl mit ins Zimmer, der aber zum Glück nicht bis zu Lovisâ Bett reichte. Das lag im Dunkeln. Genau wie er. Als Krüppel fühlte er sich nur noch im Schatten sicher. Am besten er würde ganz und gar unsichtbar werden. Lovis drehte sich zur Wand. Er spürte, wie Gustav sich vorsichtig auf die Bettkante setzte und ihm unbeholfen mit der Hand über den Hinterkopf strich.
»Wenn dir die Nachfolgerin von Frau Wittkämper nicht gefällt, suchen wir eine andere Logopädin«, flüsterte er. »Im Internet habe ich gelesen, dass es auch Selbsthilfegruppen für junge Stotterer gibt. Wir können auch noch zu einer Trauma-Beratung gehen, wenn dich das schreckliche Erlebnis
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