8 Tage im Juni
so eine Entscheidung das Leben, aber manchmal bekam Jenny beim Entscheiden noch mehr Bauchschmerzen, als ihr der Alltag eh schon bereitete.
Ein Jahr kannte Jenny die Kriegerin jetzt. Sie war in der Roten Burg aufgetaucht, nachdem Jenny eine Woche Schule geschwänzt hatte. Das ging damals nicht anders, weil Jasmin mal wieder ins Schattenreich abzudriften drohte und Oma Hilde wegen dem blöden Karl nicht so schnell kommen konnte. Plötzlich stand sie vor der Tür. Schwarze Lederhosen, langer Mantel, Pferdeschwanz bis zum Hintern, Piercings an allen möglichen Stellen. Ein Funkeln in den Augen, extrem flink mit dem FuÃ. Keine, der man die Tür vor der Nase zuschlagen konnte. »Hi, Jenny. Ich bin Frauke. Können wir irgendwo in Ruhe reden?« In der Schule hatte Jenny sie schon mal gesehen. Sie gehörte zur Streetworker-Crew, Spezialgebiet Schulschwänzer.
An dem Tag war Frauke im Flur stehen geblieben. Kein kontrollierendes In-die-Zimmer-linsen, keine Wo-ist-deine-Mama-Frage. Rintintins Knurren hatte sich schnell gelegt, sogar streicheln lieà er sich von ihr. »Ich bin mal kurz weg«, hatte Jenny in Richtung Wohnzimmer gerufen. »Muss das sein?« Jasmins Stimme klang piepsig, angstbesetzt. Frauke wusste sofort Bescheid.
Die Kriegerin hatte sie in ein Café eingeladen, in dem Jenny noch nie gewesen war. Ihr erster Chai-Latte. Zum ersten Mal mit einer Fremden über Jasmin reden, mit einer die zuhörte, die alles genau wissen wollte. »Manchmal kann ich nicht mehr, da will ich nur noch weg.« Jenny hatte sich tatsächlich getraut, das auszusprechen. Fühlte sich furchtbar mies dabei. »Kann ich verstehen«, hatte Frauke geantwortet. »Jenny, du trägst zu schwer. Haushalt, kleiner Bruder, kranke Mutter und die Schule, das ist zu viel für eine Vierzehnjährige. Kein Wunder, dass du schwänzt.«
Die Kriegerin hatte sich mit ihr ins Zeug gelegt. Schule, Jasmin, Oma Hilde, eine Zeit lang behandelten sie alle wie ein rohes Ei. Jenny hier, Jenny da, aber dann hatte sich alles wieder eingeschliffen. Nur, so schlimm wie zurzeit warâs lang nicht gewesen. Eigentlich noch nie.
Wenn sie nur aus ihrem Leben verschwinden könnte! Wenigstens so lange, bis Jasmin wieder auf dem Damm war und sich der Ãrger mit Toni und den zwei Schlägern gelegt hatte! Aber wo sollte sie hin? Zu Oma Hilde auf den Campingplatz? Da hatte sich der blöde Karl breitgemacht. Das konnte sie vergessen!
Ein Blick aufâs Handy, Jenny sprang auf. Es war Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Zu Ernährungslehre wollte sie pünktlich sein.
Die Kriegerin stellte sich ihr in der kleinen StraÃe vor der Schule in den Weg. »Freut mich, dass du zu Ernährungslehre zurück bist. Für eine zukünftige Köchin unverzichtbar.«
Jenny entdeckte zwei neue Piercings. Eines an der rechten Augenbraue und eines unter der Unterlippe. Niemals würde sie so herumlaufen, aber sie bewunderte den Stolz, mit dem Frauke dieses merkwürdige Outfit trug. Der Rücken immer durchgestreckt, die FüÃe fest auf dem Boden. »Was für Neuigkeiten? Geht das schnell?«, fragte Jenny. »In fünf Minuten fängt die Stunde an.«
»Die Mädchen-WG im Kunibertsviertel. Du erinnerst dich, dass ich dir davon erzählt habe? War mal ein Vorschlag von mir. Als Pause von deinem anstrengenden Familienleben, damit du mal Zeit für dich hast.«
Manchmal glaubte Jenny, dass die Kriegerin Gedanken lesen konnte. Da dachte sie im Stadtgarten übers Abhauen nach und schon kam Frauke mit diesem Vorschlag an.
»Es wird ein Platz frei, nächste Woche«, fuhr Frauke fort. »Ich kenn die anderen drei Mädchen. Ich glaube, du würdest gut zu ihnen passen. Müsstest dich aber in den nächsten Tagen entscheiden.«
»Muss ich erst drüber nachdenken«, sagte Jenny schnell.
»Klar. Kein Problem. Anschauen solltest du dir die Wohnung schon und auch die anderen Mädchen beschnuppern. Brauchst die Katze ja nicht im Sack kaufen. Ich habe für morgen Nachmittag einen Besichtigungstermin ausgemacht. Kannst du das einrichten?«
Jenny nickte.
»Na dann, lauf jetzt! Damit die Ernährungslehre nicht ohne dich anfängt.«
Jenny kam noch pünktlich, setzte sich an ihren Platz, legte Block und Kuli zurecht. Aber so sehr sie das Fach eigentlich interessierte, in dieser Stunde kreisten ihre Gedanken nur um die Mädchen-WG. Ihre Chance, ein
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