8 Tage im Juni
umgehen lernt, wird gestählt für viele andere Krisen, die das Leben für jeden bereithält.«
Wenn sie jetzt noch sagt »Möge die Kraft mit dir sein«, dann halte ich sie wirklich für einen weiblichen Yoda, dachte Lovis, fragte aber stattdessen: »U-u-und wie geht das mit dem U-u-unsichtbar machen?«
»Du hast bestimmt schon gemerkt, dass es vor allem die Vokale sind, die bei dir klemmen«, erklärte sie. »Wir üben also mit einem Konsonanten als Starter. Ma-mi-mo und so weiter. Kennst du bestimmt schon von früher. Entspannung kann ein Thema sein, denn â und auch das hast du bestimmt schon bemerkt â je aufgeregter man ist, desto schneller gerät man ins Stottern. Wir können auch Vorträge üben, Referate, die du in der Schule halten musst, oder â¦Â« Sie deutete auf seine Gitarre. »Lieder singen. Du bestimmst was. Es ist dein Weg. Und meiner ist für heute hier zu Ende.«
Sie deutete auf die elektronische Anzeige im Fond des Wagens, der als nächste Haltestelle den Hauptbahnhof anzeigte. Bevor sie aufstand, steckte sie das Buch in eine riesige Umhängetasche.
»Aber der Weg wird nicht leicht. In dir sind noch viele böse Geister«, sagte sie schon im Stehen. »Der Ãberfall. Der Grund, warum du wieder stotterst. Du musst sie austreiben, die bösen Geister, damit du deine Stimme wiederfindest. â Wenn du wirklich dazu bereit bist, ruf mich am Montag an.«
Sie ist wirklich ein weiblicher Yoda, dachte Lovis, als er auf dem Bahnsteig sah, dass sie trotz ihrer Winzigkeit in diesem Menschengewusel niemals unterging.
Der Ãberfall. Der Schmerz, die Demütigung. Die Demütigung war das Schlimmste für ihn gewesen bis zu Jennys Verrat. Aber hatte sie ihn wirklich verraten? Jenny. Er musste noch einmal mit ihr reden. Sich ihre Sicht dazu anhören. Mehr über den Schläger erfahren, den sie kannte. Lovis war sicher, sie konnte ihm helfen, die bösen Geister zu vertreiben, wenn sie endlich die Wahrheit sagte. In was für einer Bahn saà er? In der 18? Die fuhr zum Wiener Platz. Wichtige Dinge sollte man sofort in Angriff nehmen. »Möge die Kraft mit dir sein«, hörte er in Gedanken die Zwergin sagen.
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Joe-Joe schlief noch selig und fest, als Jenny aufwachte. Behutsam schlug sie die Bettdecke zur Seite, glitt aus dem Hochbett nach unten und deckte den Kleinen wieder zu. Leise leerte sie die Schulsachen aus ihrem Rucksack und steckte stattdessen ein paar Klamotten hinein. Als sie den gepunkteten Bikini zusammenfaltete, traf sie ein Stich ins Herz. Lovis. »Liebe ist nur ein Wort mit fünf Buchstaben«, flüsterte sie, als ob der Satz ein Heilmittel gegen Herzeleid wäre. Sie musste Lovis wieder aus ihrem Leben verbannen, niemals hätte sie ihm die Tür zu ihrem Herzen öffnen dürfen. Doch die wieder zu schlieÃen war gar nicht so leicht. Immer noch hielt sie den Bikini in der Hand und sah wie in einem Blitzlichtgewitter die Szenen im Schwimmbad aufscheinen: seine Hand, die ihr die nassen Haare aus dem Gesicht streicht. Sein Mund, der ganz, ganz leicht nach Ananas schmeckt. Seine Arme, die sie hochheben. Ende. Aus. Nicht mehr dran denken! Sie stopfte den Bikini ganz unten in den Rucksack und schloss mit einem energischen Ruck den Reisverschluss. Als ob sie die schmerzenden Erinnerungen damit wegsperren könnte!
Rintintin, Mimusch und die Katzenbabys warteten bereits auf sie. Fütterung der Raubtiere, dann erst stellte sie sich unter die Dusche. Rintintin musste heute warten, bis sie mit allem fertig war, bevor es nach drauÃen ging. Die Tiere satt und zufrieden, die Wohnung noch still und schlaftrunken, auch von Jasmin keinen Pieps, so sah es aus, als sie nach dem Duschen zurück in ihr Zimmer schlich. Sie zog sich an und setzte ihren Rucksack auf.
»Ich mache einen Ausflug«, schrieb sie in der Küche auf einen Zettel. Sie überlegte, ob das reichte oder ob sie schreiben sollte, dass sie zu Oma Hilde fuhr und Sonntagabend zurück sein wollte. Nein. Nicht mal Jasmin und Joe-Joe sollten wissen, wo sie war und wann sie zurückkam. »Macht euch keine Sorgen!«, schrieb sie stattdessen. Als ob die zwei sich jemals um sie Sorgen gemacht hätten! Für Sorgen war Jenny zuständig. Um Sorgen musste sie sich kümmern. Es wäre zu schön, wenn sich einer mal um sie sorgen würde. »Ach komm schon, Jenny! Jetzt versink bloà nicht
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