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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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in Selbstmitleid«, schimpfte sie leise und trat in den Flur. Alles war still und friedlich. Keiner bemerkte, dass sie ging.
    Der Innenhof döste im morgendlichen Halbschatten. Auf dem Spielplatz spielte der Wind mit der Schaukel, die er leicht hin und her pustete. Nur die Koslowski trat sich weit hinten bei den Holunderhecken die Füße platt und ließ ihren Pudel überall herumschnüffeln. Sonst war keiner unterwegs am Samstagmorgen. Gut so, dachte Jenny. So konnte ihr auch keiner den Abschied von der Roten Burg schwermachen.
    Natürlich schielte sie zu Tonis Wohnung hoch. Da waren noch alle Vorhänge zugezogen. Aber bewegte sich da nicht einer der Stores? Beobachtete Toni sie? Ahnte er, was sie vorhatte? Sie wandte sich ab und zwang sich, nicht schneller als üblich zum Blauen Tor zu laufen. Von dort aus sah sie noch mal zurück, bemüht, ihrem Blick etwas Zufälliges, Belangloses zu geben. Es erleichterte sie, dass Toni ihr nicht gefolgt war. Aber warum sollte er auch? Selbst wenn er sie durch den Vorhang hindurch gesehen hatte, warum hätte er misstrauisch werden sollen? Er hätte doch nur Jenny mit Rucksack und Rintintin gesehen. So verließ sie schließlich oft die Rote Burg. Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas anderes vorhatte, als die Samstagseinkäufe im Einkaufsparadies zu erledigen.
    Trotzdem flatterte ihr das Herz noch, als sie vor das Blaue Tor trat. »Es ist alles in Ordnung«, redete sie sich gut zu und holte ein paarmal tief Luft. Ein letzter Blick auf die verwaisten Plastikstühle der Tartaren, dann machte sie sich auf den Weg. Selbst vor dem Einkaufsparadies parkten erst wenige Autos. Sie begegnete kaum einem Menschen. Samstagmorgen ist eine Spitzenzeit, um von zu Hause abzuhauen, dachte sie und schritt den Schotterweg am Bahndamm entlang in Richtung Mülheim.
    Fünfzehn Minuten später hatte sie den Wiener Platz erreicht und die Rote Burg und die samstägliche Ruhe hinter sich gelassen. Den Wiener Platz hatte Jenny noch nie leer oder verlassen erlebt, hier herrschte immer Betrieb. Heute Morgen war besonders viel los. Samstag war Markttag. Sonderangebote, Schnäppchenjäger, einen Kaffee für lau von den Missionaren der Erweckungskirche, die Schnorrer vor dem Pavillon, all das interessierte Jenny nicht. Sie folgte dem Klang des Saxofons, das wie ein fernes Echo über den Platz hallte und sie zur U-Bahn-Station lotste.
    Der Saxofonspieler saß wie immer auf dem Zwischendeck zu den Bahnsteigen, und ausgerechnet als Jenny an ihm vorbeiging, spielte er »Love you till the end.« Wie hieß noch mal der Film? »P. S. Ich liebe dich.« Wieder ein Stich ins Herz. Romantisches Gesülze. Liebe war nur ein Wort mit fünf Buchstaben. Schnell hastete sie an ihm vorbei die Treppe hinunter.
    Der Bahnsteig, beherrscht von Türkenmuttis und prall gefüllten Plastiktüten, die sie wie Augäpfel hüteten, während sie auf die Bahn warteten. Auch zwei junge Männer standen mit Laptoptaschen herum und spielten mit ihren Handys. Ein paar Kinder hüpften zwischen den Tüten auf und ab. Jenny schlängelte sich an sperrigen Lauchstangen vorbei, um auf der Anzeigentafel nach den Ankunftszeiten der nächsten Bahnen zu gucken. In fünf Minuten kam eine Linie 18. Die fuhr bis zum Hauptbahnhof, dort musste sie in die S-Bahn in Richtung Au an der Sieg umsteigen.
    Sie kehrte zur Bahnsteigkante zurück und sah, dass die Rolltreppe mal wieder nicht funktionierte. Ein alter Mann fiel ihr auf: heller Leinenanzug, seidenes Einstecktuch, Stock mit Goldknauf. Keiner aus der Gegend, kam eher aus dem Blumental. Wieso musste sie schon wieder an Lovis denken? Unendlich langsam mühte sich der Alte Stufe für Stufe zum Bahnsteig herunter. Warum er wohl nicht den Aufzug nahm, fragte sich Jenny und sah dann, wie der Alte fast von einem schmuddeligen Typen umgerannt wurde, der zu einem der Fahrkartenautomaten hetzte. Stinkende Klamotten, verlebtes Gesicht. Junkie, tippte Jenny.
    Grollend und quietschend fuhr auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig eine Linie 18 ein. Die Türen gingen auf, Leute stiegen aus, der Junkie hämmerte gegen den Fahrkartenautomaten, zwei Türkenmuttis rafften ihre Tüten zusammen, der Alte pausierte auf der Rolltreppe, der Junkie fluchte und sprang hinter den Türkenmuttis in die wartende Bahn. Da sah Jenny, wie ganz weit hinten aus dem letzten Waggon in letzter Sekunde ein Junge mit einer

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