8 Tage im Juni
Durchgeknallte. Natürlich blickte er sich um. Nach der »Ãberraschung« am Wiener Platz war Vorsicht angesagt. So dauerte es, bis sie den Hauptbahnhof durchquert hatten und auf dem S-Bahn-Gleis angelangt waren. Gerade noch rechtzeitig. Die S-Bahn fuhr just in diesem Augenblick ein.
»Also dann«, sagte Jenny.
Die zwei mehrdeutigen Worte schmerzten Lovis, sie konnten genauso gut Abschiednehmen oder Mitkommen bedeuten. Wollte Jenny ihn loswerden? Oder traute sie sich nicht, ihn zum Mitreisen aufzufordern?
»I-i-ich komme mit«, erwiderte er schnell. »I-i-ich glaube, du bist mir noch ei-ei-ein paar E-E-Erklärungen schuldig.«
Zwanzig, fünfundzwanzig Minuten brauchte die S-Bahn schon, bis sie die Stadt hinter sich gelassen hatte. Erst dann hatte sie alle Pendler, Geschäftsleute und Reisende ausgespuckt, erst dann all das Grau und den Beton hinter sich gelassen, erst dann fuhr die Bahn direkt an der Sieg entlang. Dass plötzlich alles grün leuchtete, dass der Fluss so lässig dahinfloss, hatte ihr schon als Kind gut gefallen. Ferien, Ferien, hatten Joe-Joe und sie gerne gerufen, wenn zwischen der dichten Wand des Ufergrüns der schwarze Fluss auftauchte, und sie hatten sich wie Bolle gefreut, weil es ab dann nicht mehr weit zum Campingplatz war.
Den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt sah Jenny hinaus auf das Wasser, die Wälder und Wiesen. Sie sah hinaus, weil sie immer hinaussah, wenn sie an die Sieg fuhr, und sie sah hinaus, weil sie so Lovis nicht anschauen musste. Er hatte sie überrumpelt, sie war komplett durcheinander. Wer es gut oder schlecht, dass er sie begleitete? Sie wusste es nicht. Und was hatte dieser Satz â »Vera. Ich habe nichts mit ihr« â zu bedeuten? Das hätte er nicht zu sagen brauchen, wenn er nicht irgendwas für sie empfand. Bei diesem Gedanken jubilierte ihr Herz und die Bilder aus dem Schwimmbad wurden lebendig. Auch an der Sieg könnten sie schwimmen gehen, und vielleicht lieÃe sich das Glück noch mal einfangen, vielleicht könnten sie für ein paar Stunden, gar einen Tag lang ein ganz normales Liebespaar sein ⦠Aber da war dieser eisige Blick, mit dem Lovis sie bei ihrem überraschenden Besuch begrüÃt hatte. Und jetzt wusste sie, dass dieser Blick nichts mit der blonden Tusse zu tun hatte, sondern mit ihr. Und dann vorhin am Hauptbahnhof: »Du bist mir ein paar Erklärungen schuldig!«
Toni. Die Schläger. Seit der Sache am Wiener Platz wusste Lovis, dass sie die Typen kannte. Bestimmt war das die Erklärung, die er von ihr erwartete. Eisig war er aber schon vorher zu ihr gewesen. Warum? Wieso hatte er ausgerechnet in diesem Augenblick auf dem Wiener Platz auftauchen müssen? Siedend heià dämmerte ihr noch etwas anderes. Nicht nur Lovis wusste jetzt, dass sie Toni und die Schläger kannte, die drei wussten nun auch, dass sie Lovis kannte. Ausweglos. Katastrophal. Keine Ahnung, wie sie sich da bei Toni herausreden konnte. »Friesenplatz? Ãberfall? Nicht den leisesten Schimmer, wovon du sprichst. Lovis geht bei mir auf die Schule. Daher kenn ich ihn.« Könnte sogar sein, Toni war blöd genug, ihr das zu glauben. Aber der Psychopath, der würde darauf nie und nimmer reinfallen. »Und woher wusstest du, dass wir den Geldesel kennen?«, würde er fragen. »Hat er dir erzählt, was am Friesenplatz passiert ist? Glaubst du ihm etwa?« »Ich brauch ihm nicht zu glauben, Ihr Arschlöcher. Ich war dabei, ich habe es gesehen. Alles, alles habe ich gesehen!« Wie gern würde sie den dreien diesen Satz direkt ins Gesicht schreien! Aber was war danach? Und was war mit Jasmin und Joe-Joe? Die drei Schläger würden ihnen allen das Leben zur Hölle machen.
Die Bahn hielt an. »Herchen« las sie auf dem Bahnsteigschild. Eine Wandergruppe aus Rentnern stieg ein, einheitlich in beige Stoffjacken gekleidet. Hinter ihnen schoben drei Radler in Rennmontur ihre schmalen Räder in den Zug.
»Noch zwei Stationen«, sagte sie zu Lovis. »In Dattenfeld steigen wir aus.«
»Warum da?«, wollte Lovis wissen.
»Da gibt es einen Campingplatz direkt an der Sieg«, erklärte sie. »Auf dem hat meine Oma ihren Wohnwagen stehen. Seit sie pensioniert ist, wohnt sie das ganze Jahr über dort. Sie hat auch einen kleinen Garten und ein Paddelboot. Und sie grillt die besten Schaschlik-SpieÃe der Welt!«
»Da krieg i-i-ich doch
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