80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
gezogen, als ich ein Kind war. Die beiden leben immer noch dort. In meiner Kindheit bin ich ständig zwischen den beiden Städten hin und her gependelt. In Caracas habe ich dann Musik studiert. Das heißt, ich habe mit Geige angefangen …«
»Oh? Warum hast du aufgehört?«
»Ich war nicht besonders gut. Mich hat beim Spielen immer das übrige Orchester abgelenkt. Ich wollte schon von jeher alles unter Kontrolle haben.«
Ich lachte. »Der geborene Dirigent.«
»Ja, wahrscheinlich. Aber du spielst sehr gut. Wie eine Latina. Mit Leidenschaft.«
»Danke«, erwiderte ich bescheiden.
»Ich sage das nicht, um dir zu schmeicheln. Aber der Rahmen eines Orchesters bremst dich. Dein Klang käme allein besser rüber, in Solopartien.«
»Nett, dass du das sagst. Aber ich weiß nicht, ob ich das könnte. So allein im Rampenlicht wäre ich vielleicht starr vor Angst.«
»Daran würdest du dich gewöhnen. Ich glaube, es würde dir Spaß machen.«
Er streckte den Arm, und einen Augenblick glaubte ich, er wollte meine Hand nehmen, doch stattdessen griff er nach dem Löffel und naschte noch einen Happen Eis.
Meinte er das ernst?, fragte ich mich. Meine Bescheidenheit war nicht ganz aufrichtig gewesen. Ich würde liebend gern als Solistin vor einem Publikum spielen, auch wenn mir die Aussicht ebenso viel Angst einjagte, wie sie mich erregte.
Wir saßen einige unbehagliche Sekunden schweigend da. Ich schleckte den Rest des Desserts mit dem Finger aus dem Glas und konzentrierte mich auf die geschmolzene Eiscreme, um mich von der plötzlichen Beklommenheit zwischen uns abzulenken.
»Mir haben die letzten Wochen gefallen«, brach ich schließlich das Schweigen. »Ich mag die amerikanischen Komponisten, besonders Philip Glass.«
»Das ist gut«, meinte er lachend. »Obwohl nicht jeder deine Meinung teilt. Manche finden ihn eher monoton.«
»Feiert deine Familie Thanksgiving?«
»Nein, eigentlich nicht. Meine Mutter hat es früher getan, aber mittlerweile hat sie den venezolanischen Lebensstil voll und ganz übernommen. Ich allerdings gebe eine kleine Soirée am Donnerstag. Nur ein paar andere New Yorker ›Waisen‹, die nirgends zu einem Familienessen erwartet werden. Du bist herzlich eingeladen. Es kommt auch jemand, dem ich dich vorstellen möchte.«
»Sehr gerne«, nahm ich an und ignorierte die leise Mahnung in meinem Hinterkopf, dass es nicht fair war, Simón zu ermutigen, weder ihm noch Dominik gegenüber.
Wenige Tage später saß ich im selben Café, um mich mit der Frau zu treffen, die meine Anfrage wegen des Bondage-Workshops beantwortet hatte.
Cherry sah genauso kirschenmäßig aus, wie es ihr Name nahelegte. Ihre leuchtend pink gefärbten Haare waren zu einem kurzen, glatten Bob geschnitten. Dazu war sie klein und drall und von oben bis unten in Pink gekleidet. Und wenn sie nicht als einzige Ausnahme eine schwarzlederne Bomberjacke getragen hätte, die ihr eine rauere Note gab, hätte sie wie ein Girlie ausgesehen. Die prallen Lippen hatte sie großzügig mit Gloss bepinselt, an ihren Fingern prangten große Ringe, die glänzten und glitzerten, wenn sie gestikulierte. Und Cherry machte fast ebenso viele beredte Handbewegungen wie Simón.
»Du bist also neu in der Stadt?«, fragte sie in einem Tonfall, der mich vermuten ließ, dass sie ursprünglich weiter nördlich beheimatet war. Ja, sie komme aus Alberta, aus einem kleinen Ort in der Nähe von Calgary, erzählte sie. Wahrscheinlich erklärte das, warum sie sich die Mühe machte, einer anderen neu Zugezogenen unter die Arme zu greifen.
»Nicht ganz«, antwortete ich. »Ich bin schon seit ein paar Monaten hier. Aber neu … in der Szene.«
»Darüber mach dir mal keine Sorgen. Wir sind alle ganz nett. Schon mal mit Bondage experimentiert?«
»Nicht mit Shibari.«
»Es ist auf jeden Fall besser, es zu lernen, als bei einer Party einem Rigger in die Hände zu fallen, der nicht weiß, was er tut, oder dich aufknüpft und dann hängen lässt. Ich werde auf dich aufpassen.«
Ich betrachtete ihre Hände, die sanft über einen großen Becher Eiskaffee strichen. Einer ihrer Ringe war eine große Spinne, deren dicker Leib aus einem ovalen schwarzen Stein bestand und deren acht silberne Beine den Finger käfigartig umschlossen. Ein anderer stellte einen Totenschädel dar, in dem falsche Diamanten als Augen glitzerten. Sie gehörte vermutlich nicht zur sanften Sorte, obwohl man sich da leicht irren konnte. Würde das Verhalten in der Öffentlichkeit Rückschlüsse
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