80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
Passanten, fasste ihr Sommerkleid an den dünnen Trägern und zog es sich, den Baumwollstoff zwischen den Fingern knautschend, mit einem Ruck über den Kopf. Darunter trug sie nur einen zarten schwarzen Minislip.
Sie stand praktisch nackt mitten in New York unter lauter fremden Menschen, die einen Bogen um sie schlugen. Aus dem Augenwinkel sah sie überraschte Blicke, und dass manche Leute sogar stehen blieben, um genauer hinzuschauen, während andere schnell wegsahen. Mit angehaltenem Atem und brennenden Wangen nahm sie das schwarze Kleid und warf es sich über. Es saß perfekt, sogar um ihre ungewöhnlich schmale Taille. Der Stoff fühlte sich auf ihrer Haut wie kühle Seide an und linderte die heiße Scham, die sie durchströmte, als sie an all die Fremden dachte, die zugesehen hatten, als sie sich entkleidete, und dabei mehr als nur einen flüchtigen Blick auf ihren Körper erhascht hatten. Doch außer Scham spürte sie auch große Erregung, sie musste daran denken, wie scharf es sie gemacht hatte, sich vor anderen nackt zu präsentieren, damals vor all den Monaten in dem Londoner Fetischclub.
Das Kleid war ein bisschen zu lang, doch das ließ sich mit Nadel und Faden leicht beheben.
»Siehst du«, meinte Dominik.
Mit einem Lächeln nickte sie.
Dominik bezahlte.
Summer wollte gerade vorschlagen, das neue schwarze Kleid für den kurzen Weg nach Hause anzubehalten, aber da hatte Dominik den Standbesitzer schon um eine Plastiktüte gebeten und machte ihr Zeichen, wieder das leichte Sommerkleid überzustreifen. Erneut zog sich Summer aus, diesmal unter den lüsternen Blicken einer gaffenden Menge, die sich inzwischen um den Stand geschart hatte.
»Das hat dir gefallen, stimmt’s?«, fragte Dominik.
»Mir gefällt das Kleid, das wir gekauft haben«, gab Summer trotzig zurück, ohne weiter auf das Thema einzugehen.
Das neue Kleid war in der Reinigung gewesen und gekürzt worden, und Summer war bereit für ihren Auftritt. Wie vorauszusehen, hatte Dominik darauf bestanden, dass sie nichts darunter trug, was sie zusätzlich beschwingte. Sie fragte sich, was Simón wohl von ihr halten würde, wenn er es wüsste.
Er dirigierte heute Abend, wie immer.
Das Konzert fand in der Webster Hall an der 11th Street zwischen Third und Fourth Avenue statt. Es würde mit Mussorgskis Johannisnacht auf dem Kahlen Berge in der Bearbeitung von Rimski-Korsakow in voller Orchesterbesetzung beginnen. Dann würde Summer ihr Solo mit Korngolds Violinkonzert in D-Dur geben, enden sollte der Abend mit Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 d-Moll , wieder für das ganze Orchester.
Simón wollte mit diesem Programm zeigen, welche neue Dynamik er in das Gramercy Symphonia-Orchester gebracht hatte. Und Korngold passte perfekt zu Summers Temperament und Talent.
Da Summer einige Zeit vor Konzertbeginn in der Webster Hall sein musste, hatte Dominik ihr ein Taxi bestellt. Er wollte später nachkommen. Er kannte den Konzertsaal, weil er dort einmal einen Auftritt von Patti Smith erlebt hatte, deshalb hatte er Summer gebeten, ihm einen Platz oben auf dem Balkon zu besorgen, von dem man einen grandiosen Blick auf die Bühne hatte.
Es lag ein Summen in der Luft, als sich das Orchester und Simón – das reinste Energiebündel, die lockigen Haare flogen bei jeder Armbewegung wild hin und her – nach dem ersten kurzen, mit allerlei Knalleffekten angereicherten Stück von Mussorgski verbeugten und das Publikum auf die Violinistin wartete. Es war groß damit geworben worden, dass dies ihr erster Soloauftritt sein würde. Auf Dominiks nachdrücklichen Vorschlag hin hatte ein Foto von Summer ohne Kopf die Ankündigungsplakate geziert. Man sah nur einzelne rote Haarsträhnen, und sie hielt die Geige vor ihre nackten Brüste. So war ihre Identität bis zu ihrem Auftritt ein Geheimnis geblieben. Das Foto hatte eine ihrer Londoner Freundinnen gemacht, und er hatte es wegen der Erinnerungen, die es in ihm weckte, sorgsam aufgehoben. Als er den Konzertveranstaltern und dem Management des Orchesters diese Idee unterbreitete, waren sie zu seiner Überraschung hellauf begeistert gewesen. Und auch die Village Voice und Time Out hatten sich darauf gestürzt, mit der Folge, dass der heutige Abend ausverkauft war.
Es wurde dunkel, und Summer betrat die Bühne. Das Murmeln im Publikum verstummte.
Summer stellte sich gerade hin, setzte den Bogen an und stürzte sich in das schmachtende Eingangssolo von Korngolds » Moderato nobile «, zwei Oktaven mit fünf Tönen
Weitere Kostenlose Bücher