80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
der Familie gewesen.
Noch ehe die Willkommensschilder verkündeten, dass wir offiziell die Stadtgrenze passiert hatten, wusste ich, dass wir in Te Aroha waren.
Meinem Gefühl nach war es in der Stadt immer ein bisschen dunkler als in den Nachbarorten. Das schrieb ich dem Schatten des Hausbergs Mount Te Aroha zu, der meinem Empfinden nach viel länger und breiter über die ganze Stadt fiel, als er sollte. Meine Eltern und Geschwister hatten mich für verrückt erklärt; sie fanden nicht, dass sich das Licht in Te Aroha irgendwie von dem anderer Orte unterschied. Mich hingegen hatte es bedrückt, als müsste ich in einem Bett mit einer zu schweren Decke schlafen.
Der Berg ragte drohend in der Ferne auf, ein dunkler Fleck am Horizont, egal zu welcher Jahreszeit. Er hatte zur Gründung der Stadt geführt, aber auch dafür gesorgt, dass ich schnellstmöglich das Weite gesucht hatte.
Als kleines Kind hatte ich ihn einmal mit meinem Vater bestiegen. Schon nach den ersten Metern hatte ich aufgegeben, denn der Boden war schlammig gewesen, und der Gipfel schien mir so unendlich fern. Da meine Füße in dem Matsch einfach keinen Halt fanden, hatte mich mein Vater auf seine Schultern gesetzt und den ganzen Weg zum Gipfel hinaufgetragen.
Als ich mich oben umsah und sich vor uns das ausbreitete, was ich für den Rest der Welt hielt, fühlte ich mich endlich für ein Weilchen vom Schatten des Bergs befreit. Nach diesem Tag war für mich alles, was außerhalb der Stadtgrenzen lag, das Gelobte Land. Gleich nach meinem letzten Schultag ging ich fort und war bis auf gelegentliche Besuche nie zurückgekehrt.
Ich war das Nesthäkchen der Familie und fiel immer etwas aus dem Rahmen. Meine ältere Schwester Fran arbeitete hier bei der Filiale der Bank of New Zealand, und obwohl sie diesen Job nun schon seit zehn Jahren machte, hatte sie nicht vor, ihn jemals aufzugeben. Mein Bruder hatte ein Fernstudium absolviert und ein Diplom als Ingenieur. Ich war die Einzige, die, wenn auch nur kurz, eine Hochschule besucht hatte.
Bislang hatte ich noch keine Erklärung dafür gefunden, warum es mich nie länger an einem Ort hielt. In New York hatte ich mich vergleichsweise am häuslichsten niedergelassen, und dass ich mich dort und in London so wohlfühlte, lag offenbar vor allem daran, dass sich die beiden Städte ständig veränderten. Die permanente Betriebsamkeit um mich herum ließ mich die Ruhe im Auge des Sturms genießen. Ich musste nicht ständig herumrasen und meinen eigenen Tornado auslösen, nur um der Langeweile, die im Alltag eines kleinen Städtchens stets gegenwärtig war, etwas entgegenzusetzen.
Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich als Kind unglaublich fasziniert von einer Truppe Roma gewesen war, die auf ihrem Weg zur Coromandel-Halbinsel in Te Aroha Station gemacht hatten. Sie hatten Schnitzereien verkauft, aus den Karten gelesen, Feuertänze aufgeführt und die Einwohner eingeladen, ihre leuchtend bunten, individuell gestalteten Wohnwagen zu besichtigen.
Ich wollte unbedingt weglaufen und mich ihnen anschließen, um für die Feuertänzerinnen, die auf mich so exotisch wirkten, die Fiedel zu spielen, wenn sie barfuß im Gras tanzten, anmutig die Hüften schwangen und dabei die Pois mit ihren benzingetränkten Enden so schnell um sich schleuderten, dass sie die Luft in Brand zu setzen schienen.
Es wurde gerade dunkel, als wir vor dem Haus meiner Familie parkten, in dem ich siebzehn Jahre lang gelebt hatte. Da wir stets knapp bei Kasse und nie auch nur ansatzweise materialistisch orientiert gewesen waren, hatte es sich in jener Zeit kaum verändert.
Jetzt prunkte da ein neuer Carport, der Garten war umgestaltet und der Zaun gestrichen worden. Immerhin stand der Zitronenbaum noch da, was ich seltsam tröstlich fand. Vielleicht, weil seine Früchte zu meinen Pfannkuchen gehört hatten, seit ich Messer und Gabel halten konnte.
Die Klappe in der Eingangstür schwang auf, und die beiden Bulldoggen meiner Mutter, Rufus und Shilo, hopsten unter tiefem Knurren mit ihren kurzen Beinen Stufe um Stufe die Eingangstreppe hinunter. Meine Mutter folgte dicht hinter ihnen. Sie kam zur Begrüßung aus dem Haus geeilt, kaum dass sie das heisere Brummen des Toyotas auf der Straße gehört hatte.
Ich sah, dass meine Schwester und mein Vater durchs Küchenfenster guckten. Beide strahlten übers ganze Gesicht. Fran wohnte nur ein paar Straßen von meinen Eltern entfernt in einem kleinen Cottage, das sie mit einer Freundin zusammen
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