80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
Erkennungsmelodie geworden war.
Die Aula war hell ausgeleuchtet, es gab weder einen Strahler, der auf mich gerichtet war, noch wurde der Zuschauerbereich abgedunkelt. Und so konnte ich jedes Mal, wenn ich den Kopf hob, in die Gesichter meiner Zuhörer sehen. Obwohl ich wie sonst versuchte, mich in die Musik zu versenken, fiel es mir hier schwerer als in einem großen dunklen Saal, wo ich mich, selbst wenn ich vor tausend Leuten spielte, allein auf der Bühne fühlte, weil ich keinen Blickkontakt zu ihnen herstellen konnte.
Bei diesem Auftritt war ich viel aufmerksamer, denn ich war mir bewusst, dass ich die jungen Musiker mitreißen musste. Manche waren vor dem Konzert kreidebleich gewesen und hatten gezittert wie Laken auf der Leine an einem windigen Tag in Wellington. Auch hatte ich seit meiner Schulzeit nicht mehr öffentlich für meine Familie und Freunde gespielt.
Alle meine Angehörigen hatten sich für diesen Anlass groß in Schale geworfen, und selbst meine Freundinnen Cait und Mary, die extra für das Konzert nach Te Aroha gekommen waren, trugen ihre schicksten Outfits. Da sie es jedoch unterdessen gewohnt waren, abends in Auckland und Wellington auszugehen, wirkten sie ein bisschen desorientiert. Die Vorstellung, vielleicht nicht ihren Erwartungen zu entsprechen, weckte in mir größeres Lampenfieber als die Anwesenheit der schärfsten Kritiker aus der Welt der klassischen Musik.
Der erste Teil klappte prima, und wir hatten eine Pause von einer Viertelstunde, um uns zu erholen. Ich traute mich nicht, durch die Aula zu gehen, denn mir war weder nach den Lobeshymnen der Wohlwollenden noch nach den neugierigen Blicken der Einheimischen, die sehen wollten, wie ich mich rausgemacht hatte. Meine Agentin hatte zwar gesagt, ich müsse öfter den Kontakt zu meinem Publikum suchen, aber selbst sie hätte mir wohl dieses Mal meine Zurückhaltung verziehen.
Ich kramte in meiner Handtasche nach dem Handy, tat so, als hätte ich einen wichtigen Anruf bekommen, und verdrückte mich durch eine Seitentür. Draußen lehnte ich mich an die Mauer und genoss die kühle Luft. Ausnahmsweise regnete es mal nicht, doch die Wolken hingen wie immer schwer über der Stadt und hüllten sie in eine Dunstglocke. Das Gras war glitschig vom Regen, und die Tropfen auf den Blättern der Bäume blinkten im Mondlicht wie Glasperlen.
Da hörte ich ein Hüsteln, ein Stück weiter hinten an der Mauer, und sah, dass ein Feuerzeug aufflammte. Dann glomm eine Zigarette auf, ansonsten stand die Person im Dunkeln. Doch ich roch ihn und erkannte den Umriss seines Kopfes vor dem Nachthimmel. Mr. Ivers.
»Wie gut, dass ich dich allein erwische«, sagte er. »Ich wollte mir dir reden.«
Die Spitze seiner Zigarette zuckte hin und her wie ein Glühwürmchen. Seine Hände zitterten.
»Ja?«, erwiderte ich.
Er wollte mich doch jetzt nicht etwa anmachen? Da sich meine Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, betrachtete ich ihn genauer. Es war schon eine Weile her, dass ich mit Dominik zusammen gewesen war, und mit dem Zigarettenrauch würde ich mich wahrscheinlich arrangieren können. Bei all den vielen Stippvisiten in den einzelnen Städten hatte es keine Zeit für irgendwelche Tête-à-têtes gegeben, außerdem war ich nach unseren Konzerten immer so erledigt, dass ich todmüde ins Bett fiel.
Ich hatte sogar schon daran gedacht, dafür zu bezahlen und einen Callboy anzuheuern. Aber das Internet war in dieser Hinsicht nicht sehr hilfreich. Es gab zwar viele Frauen, die diese Dienstleistung anboten, aber kaum vertrauenerweckende Inserate von Männern. Da mir das Risiko zu hoch war, dass die Sache schiefging, und ich mir derartige Peinlichkeiten ersparen wollte, hatte ich das Vorhaben wieder aufgegeben.
Aber vielleicht war es interessant, der alten Zeiten zuliebe wieder mit Mr. Ivers anzubandeln. Wir könnten womöglich sogar an den alten Tatort zurückkehren.
Mit einem koketten Lächeln ging ich ein bisschen näher auf ihn zu.
»Vielleicht können wir uns nach meinem Auftritt in die Umkleidekabinen schleichen, so wie damals. Hast du nicht sogar einen Schlüssel?«
»Bist du verrückt geworden?«, zischte er, sichtlich schockiert von meinem Angebot.
»Aber ich dachte, du …«
»Um Himmels willen, nein. Ich heirate nächsten Monat. Ich wollte dir einfach nur sagen, dass es mir leidtut. Und sichergehen, dass du … es auch bestimmt niemandem erzählt hast. Ich habe zwar nicht viel Geld, aber wenn es dir helfen würde …
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