80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
ausmalte, welche Orte ich einmal besuchen würde. Dort drüben meine erste Geige noch in ihrem Originalkasten, ein Kinderinstrument, dessen Saiten zum Großteil gerissen waren, mit einem kleinen Bogen daneben. Eine weiße Vase, auf der sich winzige aufgemalte Kirschblüten zu einem asiatischen Muster fügten. Mein Vater hatte sie mir einmal geschenkt, nicht zu Weihnachten oder zum Geburtstag, sondern einfach weil er sie in einem Laden gesehen und dabei an mich gedacht hatte. »Für dich, wenn du nach Japan gehst«, hatte er gesagt. Ich war noch nicht dort gewesen.
Zum Glück kam die Sonne wieder heraus, als ich am nächsten Morgen in meiner früheren Schule eine Rede hielt. Es war total schräg, vor Kindern zu sprechen, die so viel jünger aussahen, als ich mir in diesem Alter vorgekommen war. Sie reichten mir nur bis zur Taille, es waren Babys. Ich hatte Angst gehabt, sie könnten Zwischenrufe machen oder mich mit Sachen bewerfen, stattdessen saßen sie mürrisch da und starrten Löcher in die Luft, als hätten sie sich noch nie im Leben mehr gelangweilt.
Die Schulgebäude und die Flure waren fast noch genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte, und es gab auch noch viele meiner alten Lehrer. Ich wurde zum ersten Mal in meinem Leben ins Lehrerzimmer gebeten und war überrascht, wie herzlich mich selbst jene begrüßten, von denen ich gedacht hatte, dass sie mich nicht ausstehen könnten. Sogar mein Mathematiklehrer, Mr. Bleak, der immer so barsch gewirkt hatte und als bekäme er gleich einen Zornesausbruch, weil ich mich in Algebra derart begriffsstutzig anstellte, strahlte übers ganze Gesicht, als er zu mir an den Heißwasserspender kam.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Du bist in die Welt hinausgegangen und hast etwas aus dir gemacht. Wenn doch nur die Hälfte unserer Schüler sich ein Beispiel daran nehmen würde.«
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, fiel sein Gesicht wieder in sich zusammen, und er drehte sich samt seiner Tasse mit dem Teebeutel darin um, ohne sie mit heißem Wasser gefüllt zu haben.
Als ich meinen Becher nahm und mich nach einem Platz umsah, wäre ich fast mit dem Mann zusammengestoßen, der hinter mir stand. Ich bekam einen Schlag gegen die Hand und spritzte mir kochend heißen Kaffee auf den Arm.
»Oje! Das tut mir aber leid«, stammelte er und betupfte mein Handgelenk mit seinem Hemdsärmel. Doch plötzlich zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt und nicht ich.
»Graham?«, flüsterte ich.
Stille machte sich im Zimmer breit, dick wie Watte. Er war der Einzige, den ich mit dem Vornamen angesprochen hatte statt mit Mr. Ivers. Schließlich hatte ich meinen Mathematiklehrer »Mr. Bleak« genannt und meine Musiklehrerin »Mrs. Drummond«, obwohl sie gelacht und vorgeschlagen hatte, sie Marie zu nennen. Es war einfach nicht meine Art, Lehrer vertraulich anzusprechen.
Mr. Bleak räusperte sich und war so nett, mit dem Nächststehenden laut über das Wetter zu reden. Bald herrschte wieder der normale Lärmpegel, die Lehrer vergaßen ihr Interesse an unserer überraschenden Intimität und plauderten weiter wie gehabt.
Graham war mein früherer Schwimmlehrer und der Mann, der mich entjungfert hatte.
Er hatte mich eines Tages dabei überrascht, wie ich nach dem Schwimmtraining in der Mädchenumkleide masturbierte, und mich gefragt, ob ich mal einen Mann in mir spüren wolle. »Ja«, hatte ich geantwortet.
Ich hatte damals niemandem davon erzählt, nicht einmal meiner besten Freundin Mary, obwohl sie wohl etwas in dieser Richtung vermutet hatte.
Niemand außer Dominik wusste davon, doch nicht einmal ihm hatte ich die ganze Geschichte erzählt – nämlich dass ich danach auch weiterhin unermüdlich für Graham geschwommen war, Bahn um Bahn, und die Schinderei unter seinem aufmerksamen Blick genossen hatte.
Meine Mutter war begeistert von meinem neu erwachten sportlichen Interesse gewesen, hatte sie doch befürchtet, meine Leidenschaft für die Musik habe sich zu einer ungesunden Besessenheit ausgewachsen. Es war sogar die Rede davon gewesen, dass ich auf Regionalebene an Schwimmwettkämpfen teilnehmen sollte. Ich hatte eine Fülle von Vorwänden parat gehabt, warum ich nach dem Training länger bleiben musste, zumindest so lange, bis alle anderen Mädchen gegangen waren. Dann hatte ich bei offener Tür masturbiert und gehofft, wenn auch vergeblich, dass mich der Schwimmtrainer wieder ficken würde.
Natürlich hatten die anderen Mädchen angefangen, darüber zu tratschen,
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