80 Days - Die Farbe der Lust
die Lippen.
»Du bist dafür geschaffen«, beharrte Victor. »Wir werden einen Riesenspaß haben. Ich werde dich ausbilden, bis du alles gelernt hast, was es zu lernen gibt.«
Die Übelkeit stieg mir vom Magen in die Kehle, und ich kam mir vor wie in einem Zug, dessen Bremsen versagen und der mit donnerndem Getöse auf den Abgrund zurast, ohne dass ich seinen Kurs ändern konnte.
»Und beim nächsten Mal …« Ich hörte, dass er sich am anderen Ende der Leitung genüsslich jedes Wort auf der Zunge zergehen ließ »… machen wir es offiziell. Wir werden dich eintragen.«
»Eintragen?«
»Ja, in das Sklavenregister, das es im Internet gibt. Keine Sorge, nur die Eingeweihten kennen deine wahre Identität. Du bekommst eine Nummer und einen Sklavennamen. Es wird unser Geheimnis sein. Ich dachte an ›Sklavin Elena‹. Klingt doch nett.«
»Und was ist damit verbunden?« Kurz gewann meine Neugier die Oberhand.
»Dass du dich voll und ganz in meinen Besitz begibst und ständig mein Halsband trägst.«
»Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin«, wandte ich ein.
»O doch, das bist du.« Er ließ nicht locker. »Du kannst dir aussuchen, ob du an deiner intimsten Stelle einen Ring oder ein Tattoo haben willst. Darauf stehen dann deine Nummer oder dein Barcode, die über deinen Status und deinen Besitzer Aufschluss geben. Das werden natürlich nur wir Eingeweihte zu sehen bekommen.«
Als ich ihm zuhörte, empfand ich Scham, aber zugleich auch eine wachsende Erregung. Wir lebten im 21. Jahrhundert, da konnte es doch so etwas nicht mehr geben.
Dennoch war die Versuchung groß. Der Ruf der Sirenen kitzelte bereits meine Sinne und meine Fantasie, obwohl mich mein Realitätssinn warnte, dass ich dabei meine heiß geliebte Unabhängigkeit verlieren würde, die ich jahrelang eisern verteidigt hatte.
»Wann soll das sein?«, fragte ich.
Victor schnurrte. Er las in mir wie in einem offenen Buch. »Ich lasse es dich wissen.«
Mit diesen Worten legte er auf. Und ließ mich mit meinen Erwartungen allein.
Ich sank zurück auf mein schmales Bett. Für die kommende Woche waren keine Proben angesetzt. Ich hatte also viel Zeit totzuschlagen – und viel zu viel Zeit zu grübeln. Wenn ich ein Buch aufschlug und zu lesen versuchte, verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen, und ich konnte mich weder auf die Handlung noch auf das Thema konzentrieren.
Auch Schlaf fand ich nicht. Zu stark tobten die Stürme in meinem Inneren.
Seit zwei Tagen wartete ich auf Victors Anruf. Ich war stundenlang durch Greenwich Village geschlendert, hatte mich zur Ablenkung einem kleinen Kaufrausch hingegeben und war in Kinos gehuscht, die blödsinnige Actionfilme zeigten. Kein Lebenszeichen von Victor. Es war eindeutig, dass er mich absichtlich quälte. Er wollte, dass mein Verlangen überwältigend war, wenn er sich endlich meldete. In den Kinosälen stellte ich mein Handy auf Vibrieren, weil ich hoffte, er würde vielleicht während der Vorstellung Kontakt mit mir aufnehmen. Doch das hätte ich mir sparen können.
Irgendwann begann ich, mich vor meinen eigenen Gedanken zu fürchten. Gab es überhaupt noch ein Zurück von dem Weg, den ich eingeschlagen hatte?
In einer Nacht, in der ich wegen der Wärme in New York die Fenster weit geöffnet hatte und aus den Straßenschluchten der unentwegte Sirenenton der Ambulanzen und Streifenwagen zu mir drang, hatte ich um drei Uhr morgens plötzlich die Idee.
Ich würde alles auf eine Karte setzen.
Und vielleicht dadurch die Entscheidung aus der Hand geben.
Da es in London fünf Stunden früher war als hier, konnte ich dort durchaus noch anrufen.
Als ich Chris’ Nummer wählte, hoffte ich, dass er sein Handy nicht ausgeschaltet hatte, weil er gerade in Camden Town oder Hoxton auf der Bühne stand. Ich ließ es eine Ewigkeit klingeln und wollte schon aufgeben, als er den Anruf doch noch annahm.
»Hi, Chris!«
»Hallo, Süße! Wieder in London?«
»Nein, noch in New York.«
»Wie geht’s dir?«
»Ich bin mit den Nerven am Ende«, gab ich zu.
»Es ist nicht besser geworden?«
»Nein, eher noch schlimmer. Du kennst mich ja. Manchmal stehe ich mir selbst im Weg.«
»Als ob ich das nicht wüsste.« Einen Moment schwieg er nachdenklich. »Summer? Komm zurück nach London. Lass alles stehen und liegen und komm. Du weißt ja, ich helfe dir, wenn du etwas brauchst.«
»Ich kann nicht.«
»Wirklich nicht?«
Ich zögerte, ließ jedes Wort dreimal über meine trockene Zunge wandern, dann sprach ich
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