80 Days - Die Farbe der Lust
Reiz wie früher. Ein Gefühl, das er als äußerst verstörend empfand, zumal es ziemlich neu für ihn war.
Claudia war zu Hause in Hannover, wo sie für ein paar Wochen ihre Familie besuchte, aber Dominik konnte sich nicht aufraffen, loszuziehen und sich eine andere aufzureißen, mit der er Spaß haben und Lust erleben konnte. Unter seinen Ehemaligen gab es keine, die er jetzt gern um sich gehabt hätte, und auch nach Freunden oder Verwandten stand ihm nicht der Sinn. An manchen Tagen litt er sogar unter der Furcht, dass ihm aus unerklärlichen Gründen seine Verführungskünste abhanden gekommen waren.
Auf dem Weg zu einer Filmvorführung im National Film Theatre an der South Bank ließ er sich von einem Jungen am Eingang des Bahnhofs Waterloo eine der kostenlosen Zeitungen geben und steckte das Blatt gedankenlos in seine Stofftasche, um es bis zum Nachmittag des folgenden Tages zu vergessen.
Dominik hatte die Zeitung schon halb durchgeblättert, als er eine kurze Lokalmeldung überflog, die es an jenem Morgen nicht bis in den Guardian geschafft hatte. Die Rubrik hieß »Meldungen aus dem Untergrund« und enthielt für gewöhnlich Berichte über absonderliche gefundene oder verlorene Gegenstände oder alberne Geschichten von Haustieren oder die Beschwerden von Pendlern.
Diesmal ging es um eine Straßenmusikerin, eine Violinistin, die während ihres Auftritts in der Station Tottenham Court Road am vergangenen Tag offenbar unfreiwillig in einen Tumult geraten war. Eine Gruppe betrunkener Fußballfans hatte auf dem Weg zum Spiel im Wembley-Stadion randaliert, und die Angestellten des Londoner Transportwesens hatten sich schließlich zum gewaltsamen Eingreifen gezwungen gesehen. Die Frau war nicht direkt beteiligt gewesen, wurde aber im Verlauf der Ausschreitungen heftig angerempelt. Sie ließ ihr Instrument fallen, und einer der Kerle war dann mit seinem ganzen Gewicht daraufgekracht. Es klang nach Totalschaden.
Dominik las den Artikel hastig ein zweites Mal, diesmal bis zum Ende. Die Frau hieß Summer, Summer Zahova. Trotz des osteuropäisch klingenden Nachnamens stammte sie offenbar aus Neuseeland.
Das musste sie sein.
Tottenham Court Road, Geige … auf wen sonst sollte das zutreffen?
Allerdings würde sie jetzt, ohne ihr Instrument, kaum noch irgendwo aufspielen. Daher waren seine Chancen, sie wiederzusehen, geschweige denn, ihr noch einmal zu lauschen, praktisch auf null gesunken.
Dominik lehnte sich zurück und knüllte gedankenverloren die Zeitung zusammen. Wutentbrannt warf er sie auf den Boden.
Aber immerhin hatte er einen Namen: Summer.
Er riss sich zusammen. Und ihm fiel ein, dass er vor einigen Jahren übers Internet vorsichtig eine ehemalige Geliebte verfolgt hatte, um zu sehen, was aus ihr geworden war und wie sich ihr Leben nach ihm entwickelt hatte. Es blieb bei der einseitigen Kontrolle, denn sie bekam von seiner diskreten Beobachtung nichts mit.
Dominik ging in sein Arbeitszimmer, fuhr seinen Computer hoch und gab den Namen der jungen Musikerin bei Google ein. Er bekam nur wenige Treffer, doch immerhin war sie bei Facebook registriert.
Das Foto auf ihrer Seite war schlicht und bestimmt schon einige Jahre alt, dennoch erkannte er sie auf Anhieb. Vielleicht war es in Neuseeland aufgenommen worden – überhaupt, wie lange mochte sie schon in England, in London, sein?
Wenn sie ihrer Geige nicht gerade komplizierte Tonfolgen abrang, hatte sie eine entspannte Haltung. Ihr lippenstiftgeschminkter Mund stach aus dem Foto leuchtend rot hervor. Dominik ertappte sich bei der Überlegung, wie es sich wohl anfühlte, wenn sein steifer Schwanz von diesen feurig-sinnlichen Lippen umschlossen würde.
Summer Zahova hatte ihre privaten Daten zum Teil geschützt, daher konnte er weder einen Blick auf ihre Pinnwand werfen noch die Liste ihrer Freunde einsehen. Außer ihrem Namen, ihrem Heimatort und London als gegenwärtige Adresse gab sie kaum Persönliches preis. Aber immerhin erklärte sie ihr Interesse an Männern und auch an Frauen und listete eine Reihe klassischer Komponisten sowie einige Popmusiker auf, die sie mochte. Es gab jedoch keinen Hinweis auf Filme oder Bücher; offenbar gehörte sie zu denen, die meist nicht lange auf Facebook verweilten.
Er aber konnte jetzt zu ihr Kontakt aufnehmen.
Später am Abend, nachdem er das Für und Wider von allen Seiten beleuchtet hatte, kehrte Dominik an den nervtötend schweigenden Bildschirm seines Laptops zurück, loggte sich bei Facebook ein und
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