80 Days - Die Farbe der Lust
legte unter einem Nicknamen einen neuen Account an. Allerdings machte er darin so wenige Angaben, dass Summers Seite im Vergleich dazu schon geschwätzig wirkte. Was das Foto betraf, tat er sich schwer – zunächst fasste er ins Auge, jemanden mit einer reich verzierten venezianischen Karnevalsmaske hochzuladen, was ihm dann aber doch eine Spur zu melodramatisch schien, sodass er den Platz schließlich freiließ. Seinem Gefühl nach war der Text schon rätselhaft genug.
Unter diesem Deckmantel tippte er dann die Nachricht, die er Summer schicken wollte:
Liebe Summer Zahova,
voller Bestürzung erfuhr ich gerade von den Problemen, die Sie hatten. Ich bin ein großer Bewunderer Ihres Talents, und da ich sicherstellen möchte, dass Sie weiter musizieren können, würde ich Ihnen gern eine neue Geige zum Geschenk machen.
Stellen Sie sich der Herausforderung und akzeptieren Sie meine Bedingungen?
Ganz bewusst setzte er keinen Namen unter die Nachricht, sondern klickte lediglich auf »Senden«.
3
EIN MÄDCHEN UND SEIN HINTERN
Merkwürdig entrückt starrte ich auf die Bruchstücke meiner Violine.
Ohne das Instrument in meiner Hand fühlte ich mich, als wäre ich nicht wirklich da, als hätte ich die ganze Szene von oben beobachtet. »Dissoziation« hatte es der Schulpsychologe in meiner Highschool genannt, als ich versucht hatte, ihm zu beschreiben, wie ich mich ohne Geige in der Hand fühlte. Ich sah in dem seltsamen Hochgefühl, wenn ich mich in die Musik versenkte und abhob, lieber einen Zauber. Doch ich vermutete, dass meine Gabe, mit der Musik zu verschmelzen, in Wirklichkeit nichts anderes war als eine erhöhte Empfindsamkeit in einem Bereich meines Gehirns, die auf ein äußerst starkes sexuelles Begehren zurückzuführen war.
Wäre ich eine Heulsuse, hätte ich geweint. Nicht dass ich nicht manchmal über etwas traurig bin, aber ich gehe mit solchen Gefühlen anders um, sie durchströmen meinen Körper und äußern sich dann normalerweise in meinem Geigenspiel oder in einer körperlichen Aktivität wie hemmungslosem gefühlsbetontem Sex oder wildem Schwimmen in einem Londoner Freibad, wo ich Bahn für Bahn durchpflüge.
»Tschuldigung, Süße«, lallte ein Betrunkener, der auf mich zu stolperte und mir seine Alkoholfahne ins Gesicht blies.
Irgendwo in der Stadt fand heute ein Fußballspiel statt, und Anhänger der gegnerischen Mannschaften, jeweils in vorschriftsmäßiger Aufmachung ihres Teams, waren auf dem Weg zum Spiel in der U-Bahn-Station aufeinandergeprallt. Die Schlägerei war nur wenige Schritte von mir entfernt losgebrochen. Da ich wie immer in meine Musik vertieft gewesen war, hatte ich nicht gehört, wer wen durch welche Bemerkung provoziert hatte. Ich hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass sie aufeinander losgegangen waren, bis ein bulliger Typ in mich hineinknallte, sodass meine Geige gegen die Wand geschleudert wurde, der Geigenkasten umfiel und die Münzen über den Boden kullerten wie Murmeln auf einem Schulhof.
Da an der Station Tottenham Court Road immer viel los ist, ist sie mit Personal gut besetzt. Zwei korpulente Bahnangestellte trennten die Schläger voneinander und drohten, die Polizei zu rufen. Das wirkte wie ein kalter Guss auf die Fans, die wie Ratten in den Eingeweiden der U-Bahn-Station verschwanden und Rolltreppen hinauf und U-Bahnschächte entlangrannten, als kapierten sie gerade, dass sie das Spiel verpassten oder sogar im Knast landeten, wenn sie sich nicht schleunigst aus dem Staub machten.
Dort, wo ich eben noch die »Bittersweet Symphony« gespielt hatte, glitt ich an der Wand zu Boden und presste die beiden Einzelteile der Violine an meine Brust, als wiegte ich ein Baby. Es war kein teures Instrument gewesen, aber sie hatte einen wunderbaren Klang gehabt und würde mir fehlen. Mein Vater hatte sie bei einem Trödler in Te Aroha entdeckt und sie mir vor fünf Jahren zu Weihnachten geschenkt. Ich spiele gern auf gebrauchten Geigen, und mein Vater hatte ein wunderbares Ohr für sie. Er hatte die Gabe, aus einem Haufen Schrott genau das Instrument auszuwählen, auf dem es sich bestens spielen ließ. Und so kaufte er mir immer wieder Instrumente, ebenso wie meine Mutter und meine Schwester mir Klamotten und Bücher kauften, von denen sie annahmen, dass sie mir gefielen; es gelang ihnen stets hervorragend. Ich stellte mir gern vor, wer die Geige vor mir gespielt hatte, wie er oder sie das Instrument gehalten hatte, die vielen warmen Hände, durch die sie gegangen war
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