80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
Visumantrag als Kontakt angab. Dank entfernter Verwandter meiner Tante in Amerika hatte ich zudem einen Bürgen. Man bewilligte mir einen dreimonatigen Aufenthalt zur Fortbildung – genügend Zeit, um mich einzuleben und als Kellnerin erste Erfahrungen in der Arbeitswelt zu sammeln. Als meine Aufenthaltsgenehmigung ablief, tauchte ich in Queens in einer stillen Seitenstraße von Ridgewood unter. In diesem Viertel lebten unzählige Menschen aus Osteuropa – Albaner, Ukrainer, Rumänen, alle auf der Suche nach einer besseren Zukunft in den Vereinigten Staaten –, die hier, auf fremder Erde und im Schatten von Hochhäusern, letztlich genauso lebten wie in ihrer Heimat.
Ich fand eine einigermaßen erschwingliche, allerdings auch recht erbärmliche Unterkunft unweit einer U-Bahnlinie, mit der ich rasch nach Manhattan kam, wo ich einen Job in einer Patisserie mit Kaffeeausschank in der Bleecker Street ergattert hatte. Sie gehörte einem Franzosen namens Jean-Michel, der sich gerade von seiner Frau getrennt hatte und den es nicht weiter störte, dass ich keine Aufenthaltsgenehmigung besaß, solange ich gut aussah und ausgesprochen achtsam mit seinen Törtchen und Kuchen umging. Er backte die besten Croissants und Petits Pains au chocolat von ganz Greenwich Village, aus einem leichten, lockeren Blätterteig, der auf der Zunge zerging und dessen Duft unwiderstehlich sämtliche Leckermäulchen anzog. Sie zu verkaufen, fiel mir nicht schwer. Da ich schon immer sehr geduldig war – vielleicht weil es mir an Ehrgeiz mangelte, weil die biologische Uhr für mich nicht tickte, weil mich niemand zur Eile antrieb oder Rechenschaft von mir forderte –, ließ ich dem Teig alle Zeit, die er brauchte, ehe ich ihn vorsichtig über einem Stück Butter ausrollte, ihn umdrehte, erneut ausrollte, zusammenfaltete und diese Prozedur dann ein ums andere Mal wiederholte, bis ich schließlich die süße Bitterschokolade darin einschlug. Anschließend backte ich das Ganze im Ofen, sodass der köstliche Duft von zwei Dutzend Petits Pains au chocolat den Laden erfüllte, und präsentierte sie dann auf einem Glasteller im Schaufenster. Dass Jean-Michels Hände gern einmal über meinen Körper wanderten, wenn er mich in seine ausgefeilte Kunst des Backens einwies, war nur eine kleine Unannehmlichkeit, solange ihm bewusst blieb, dass weiteres Vordringen nicht gestattet war.
Der Herbst neigte sich dem Ende zu, und erste Anzeichen des Winters kündigten sich an. Obwohl der Himmel noch blau und die Tage voller Licht waren, packten die New Yorker morgens Schal und Handschuhe in ihre Taschen, um für die kalten Abende gerüstet zu sein. Da ich viel tiefere Temperaturen gewöhnt war, genoss ich die kühle Luft, die über meine bloßen Arme strich, als ich den West Broadway hinunterging. Es war der erste Sonntag im November, und ich würde allein im Laden stehen, denn Jean-Michel nahm am New-York-City-Marathon teil. Er joggte durch die Straßen, weil er verzweifelt versuchte, die Pfunde wieder loszuwerden, die er unvermeidlich zugelegt hatte. Da er nicht mehr der Jüngste war und sich mittlerweile an die amerikanischen Portionen gewöhnt hatte, war sein Bauch ebenso aufgegangen wie der Teig seiner Croissants.
Als die Glocke an der Ladentür ertönte, fuhr ich erschreckt hoch. Beinahe hätte ich das Blech mit den bildschönen pastellfarbenen Makronen fallen lassen, denen ich den ganzen Vormittag gewidmet hatte – Eischnee mit gemahlenen Mandeln und Zucker vermengt und die süße Mandelmasse dann mit dem Spritzbeutel in möglichst ebenmäßigen runden Häufchen aufs Backpapier gesetzt. Sie mussten alle die gleiche Größe haben, damit sie nach dem Abkühlen mit einer Füllung aufeinandergeklebt werden und dann in mit Schleifen verzierte Schachteln gepackt werden konnten. Wir verkauften sie an junge Frauen, die sich nach ihrer Büroarbeit eine Belohnung gönnen wollten, oder an Ehemänner mit einem schlechten Gewissen, die auf ihrem Heimweg an keinem Blumenladen mehr vorbeikamen.
In meiner Hast, das Backblech wieder gerade zu halten, ehe die Makronen auf den Boden kullerten, verbrannte ich mir die Fingerspitzen und einen Streifen Haut auf der Handinnenfläche. Verärgert und gereizt eilte ich aus der Backstube in den Laden, um den Kunden zu bedienen.
Chey.
»Sie sollten die Stelle mit Eis kühlen«, sagte er, als er den feuerroten Streifen sah, den das heiße Backblech in meine Hand gebrannt hatte. Ich war zusammengezuckt, als er die Geldstücke für
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