80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
Zuerst dachte ich, der Brief stamme von einer anderen Tänzerin, mit der ich mich in einer der zahllosen Garderoben mal unterhalten hatte. Aber die Buchstaben und die steile Schrift wirkten eher männlich und kraftvoll.
Trotzdem hielt ich ihn nicht für wichtig und ließ ihn ungeöffnet einen halben Tag liegen, ging erst mal frühstücken und dann ganz gemütlich zum Strand, um im Meer zu baden. Mein Kontakt mit Madame Denoux und alle Korrespondenz, die mit der Arbeit zu tun hatte, wurden grundsätzlich online über mein Macbook Air abgewickelt, das mich überallhin begleitete.
Auf dem Rückweg zu meinem kleinen Hotel geriet ich unvermeidlich in die pralle Mittagssonne, und ich sehnte mich nach einer Dusche. Doch da lag der Brief auf meinem Nachttisch und heischte mit seinen bunten Aufklebern meine Aufmerksamkeit.
Ich streifte meine Flipflops ab, griff nach einer Nagelfeile und schlitzte ihn auf.
Er war von Chey.
Als ich ihn zu Ende gelesen hatte und aufsah, hatte die Klimaanlage den Schweiß auf meinem Körper zu einem klebrigen Film getrocknet.
Luba,
ich kann mir gut vorstellen, wie du meine ersten Sätze liest und dir klar wird, von wem sie stammen. Bitte, Luba, werde nicht wütend und zerreiße den Brief nicht, ohne ihn gelesen zu haben.
Bitte.
Ich sehne mich nach dir …
Der Brief war mehrere Seiten lang. Es war ein Liebesbrief, der erste in meinem Leben überhaupt.
Ein Liebesbrief, in dem Chey sich gar nicht erst bemühte, mir die Pistole in seiner Schublade oder seine sogenannten Geschäftsreisen zu erklären. Er schrieb mir auch nicht, wo er sich aufgehalten hatte, wenn ich in New York auf ihn wartete. Er erwähnte lediglich vage irgendwelche Gründe, die er mir vielleicht eines Tages enthüllen würde, ansonsten bedauerte er, dass ihm das im Moment nicht möglich sei.
Am meisten aber verletzte mich, dass er sich offenbar bereits damit abgefunden hatte, mich verloren zu haben, obwohl er mir zugleich seine Liebe in ungeschminkten, gefühlvollen Worten offenbarte.
Mit jedem Tag, der vergeht, spüre ich, wie du mir mehr und mehr entschwindest und in immer weitere Ferne rückst. Es scheint mir eine Ewigkeit her, dass wir zusammen waren, miteinander gesprochen, uns berührt haben. Es tut höllisch weh, aber es ist in Ordnung. Langsam lerne ich, es zu akzeptieren. Deine Zukunft findet anderswo statt, ohne mich. Das ist schmerzlich, aber ich muss realistisch sein. Ich darf mich nicht weiter an dich hängen. Auch wenn jeder Tag, den ich ohne dich verbringe, sich so anfühlt, als hätte ich nur ein halbes Leben, ein Leben, in dem ein großes Loch in meinem Körper, meinem Herzen, meiner Seele klafft.
Mindestens zehnmal am Tag sage ich mir, dass ich dich ein für alle Mal verloren habe, und weine ein wenig in mich hinein (und wenn gerade niemand in der Nähe ist, vergieße ich auch echte Tränen), nur um ein paar Minuten später gegen diese Resignation aufzubegehren. Ich will einfach nicht akzeptieren, was geschieht, geschehen wird oder schon geschehen ist. Ein Kampf, den zu gewinnen mir unmöglich scheint …
Wollte er es denn noch nicht einmal versuchen?
Jede Sekunde, die wir zusammen verbracht haben, hat sich meinem Gedächtnis eingebrannt, und allein schon dafür werde ich dich ewig lieben – für jeden Kaffee und jedes Glas Wein, das wir gemeinsam getrunken haben, für die Spaziergänge, die Mahlzeiten, die Umarmungen und für die Momente des Schweigens. Ich danke dir, Luba, für alles, was du mir in so kurzer Zeit gegeben hast, und ich danke dir, dass ich dir gehören durfte, so wie du mir gehört hast (auch wenn ich in meiner Unersättlichkeit der Ansicht bin, dass es nicht annähernd genug war).
Ach, all die Orte, zu denen ich dich noch mitnehmen wollte. Du warst immer so reisehungrig, wolltest immer zu neuen Horizonten aufbrechen. Die Städte, die Landschaften, die ich durch deine Augen ganz neu hätte sehen können, die Straßen, die du mit deinen wunderbaren, endlos langen Beinen hättest entlanglaufen können, die tausend privaten Bühnen, auf denen ich dich gerne hätte tanzen sehen, ganz allein für mich, meine Primaballerina, meine Meerjungfrau, meine Tänzerin, gefangen im Bernstein.
Mit keinem Wort erwähnte er, wie wütend er anfangs auf meine Auftritte als Stripperin reagiert hatte. Auch Lev sparte er aus, und die Pistole und was ich damit getan hatte, kam nur am Rande vor.
Das war übrigens ein guter Schuss, und der Fernseher hat sich nicht davon erholt … Ich finde es nicht
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