80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Jahrhunderte auf eine Frau gewartet, und jetzt, wo ich wieder in einem Hafen bin, willst du mir meinen Spaß nicht gönnen?“
„Wenn Sie Jahrhunderte gewartet haben, was sind dann noch achtzig Tage mehr? Mit meinem Vermögen in Gold werden die Bordelle in ganz Holland Sonderschichten für Sie einlegen.“
Der Kapitän schluckte, und es klang, als schlucke er Staub. „Sonderschichten“, murmelte er. „Sonderschichten. Das gefällt mir.“
„Hey?“, meldete sich eine Frauenstimme vom Kai. „Da oben sind doch Leute, oder?“
„Laufen wir aus!“, schrie Sir Darren. Seine Stimme überschlug sich. „Für den Ruf der Libera Nos und die Ehre ihres Kapitäns, für ein Vermögen in Gold und für die Sonderschichten in den Bordellen Hollands, was sage ich, Europas!“ Die Stimme des Mädchens war sehr leise und dünn gewesen. Er betete, dass Fokke sie nicht gehört hatte. Dass die Jahrhunderte auf See seinen Ohren ebenso geschadet hatten wie seinen Augen.
„Laufen wir aus!“, donnerte der Kapitän endlich. „Für die Sonderschichten!“
Sir Darren wurde Zeuge, wie Fokke seine Befehle brüllte und das Schiff sie gemeinsam mit den Matrosen ausführte. Die Planke zog sich selbst ein, ehe das Mädchen einen Fuß darauf setzen konnte, in der Takelage rumorte es, Taue liefen über die Rollen, Segel entfalteten sich und wurden gesetzt, Ketten schossen ratternd durch die Klüsen, und die Ankerwinde drehte sich. Alles geschah gleichzeitig, und binnen weniger Sekunden war das Schiff bereit zum Auslaufen. Tote Materie – tote Menschen – ohne Unterschied gehorchten sie beide den Befehlen des Kapitäns.
Und selbst die Elemente schienen diesem Mann zu gehorchen, denn der Wind blies so, wie sie ihn brauchten, und Sir Darren starrte fasziniert in Richtung Bug, als die Libera Nos Fahrt bekam.
In den Docks herrschte geschäftiges Treiben, doch niemand konnte das berühmteste aller Geisterschiffe sehen. Niemand außer einer hübschen jungen Frau, die ihnen vom Kai aus nachblickte und sich fragen musste, ob sie den Verstand verloren hatte …
ENDE DER EPISODE
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Nr. 22 -
Neun Faden tief
1
Er fuhr mit dem Fliegenden Holländer!
Auf einem Geisterschiff.
Nicht nur auf irgendeinem, sagte eine innere Stimme, die ebenso reißerisch wie finster klang: Du fährst auf dem Geisterschiff schlechthin!
Unbestreitbar …
Bei der Fahrt aus dem Hafen hatte er ständig das Gefühl, sie müssten einen der Frachter rammen, die in den engen Wasserstraßen rangierten. Groteske schwimmende Metallklötze waren es, mit abgewetzten schwarzen Rümpfen und hoch aufragenden gelben Kranen, dort, wo man im ersten Moment die Segel erwarten mochte. Mit hämmernden, kreischenden Motoren kamen die Ungeheuer herein, Containerschiffe, Tanker und Bulkfrachter, und ihre Schiffsschrauben schufen plätschernde Strudel im Wasser, während sie mit erstaunlicher Präzision in die für sie bestimmten Bassins einlenkten. Diesen Fahrzeugen war die Schönheit abhandengekommen, die Schiffe über Jahrhunderte hinweg geprägt hatte. Sie hatten sie gegen eine stadtgleiche Größe eingetauscht. Kleine Gestalten in farbenfrohen Windjacken liefen über das Deck wie durch eine Lagerhalle. Dutzende von einförmigen Kisten waren zu ganzen Wänden aufgetürmt, geometrisch exakte Körper ohne Seele. Kein prächtig uniformierter Offizier stand mehr mit dem Fernrohr an der Reling. Die Kapitäne dieser Schiffe versteckten sich auf der Navigationsbrücke beim Steuermann und beobachteten die elektronischen Anzeigen, anstatt stolz und neugierig dem neuen Hafen entgegenzublicken.
Die Libera Nos tanzte beinahe schwerelos zwischen diesen schwimmenden Lagerhallen, und das, obwohl Sir Darren sicher war, dass das körperlose Schiff auch geradewegs durch die Frachter hätte hindurchfahren können, ohne Schaden zu nehmen. Er war trotzdem erleichtert, dass es das nicht tat.
Der Wind wehte immer so, wie Kapitän Fokke es brauchte, und so war die träge Arbeit der Crew eher eine Farce, eine Art Theaterstück ohne praktischen Nutzen. Die Segel setzten sich selbst, das schwere, mit Metallbolzen versehene Steuerrad drehte sich von alleine. Wind, Schiff und Besatzung bildeten eine Einheit, und die Besatzung schien davon der am wenigsten wichtige Teil zu sein.
In den ersten Minuten und Stunden siegte in dem einzigen Passagier, den die Libera Nos hatte, die Faszination über die Furcht und Ungewissheit. Der Wissenschaftler in ihm begann das Phänomen zu untersuchen, versuchte
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