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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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eine Logik zu finden in den vielen Widersprüchen, die das Gespensterschiff ihm präsentierte. Die Libera Nos hatte ein Kielwasser, sie hinterließ die Spuren, Verwirbelungen, die ein gewöhnliches Schiff an ihrer Stelle ebenfalls hinterlassen hätte. Zweifellos wären die Matrosen der anderen Fahrzeuge darauf aufmerksam geworden, wären sie nicht mit tausend kleinen Aufgaben beschäftigt gewesen. Sie war stofflich und durchlässig zugleich, ein realer Teil dieser Welt, und dennoch weitgehend unabhängig von ihren physikalischen Gesetzen. In seinem Kopf kreisten diverse Theorien über Geistererscheinungen, gängige wie abwegige, fremde wie eigene. Alles, was er je über Ektoplasma gelesen hatte, kam ihm in den Sinn, und die Erfahrungen, die er bisher mit solchen Phänomenen gemacht hatten, wurden abgespult und zur Interpretation heranzogen. Er hatte Ektoplasma schon häufig gesehen, aber noch nie gespürt. Immer wieder strich seine Hand über das Material, aus dem das Schiff gebaut war, und er fragte sich, ob es tatsächlich Holz war.
    Die ersten Stunden über wagte er kaum, seinen Platz an der Reling zu verlassen, vielleicht aus Furcht davor, seine Rolle als unbeteiligter Beobachter aufzugeben und ein Teil des Geisterreigens zu werden. Dabei gehörte er längst dazu, ob er es wahrhaben wollte oder nicht.
    Als die Hafenanlagen hinter ihnen blieben und sie in das IJsselmeer einschwenkten, hielt sich in ihm noch das Gefühl, im 21. Jahrhundert zu sein, Segelschiff hin oder her. Doch mit jeder Stunde, die sie an der niederländischen Küste entlang segelten, auf die Straße von Calais zu, fühlte er sich unaufhaltsamer in die Vergangenheit gerissen. Sobald die Architektur der Küste im Dunst verschwand und der Schiffsverkehr nachließ, gab es nichts mehr, was ihn an die Gegenwart erinnerte. Nichts vielleicht außer seinem modernen Anzug und der Armbanduhr, die er trug. Immer mehr empfand er sich selbst wie einen Gast aus der fernen Zukunft – die Zeit, die auf der Libera Nos stehen geblieben war, schien die tatsächliche Gegenwart zu sein, Sir Darrens Welt mit ihren Autos, dem Fernsehen und dem Internet, verblasste zu einer Fata Morgana am Horizont.
    Die Nacht brach herein, noch ehe sie in den Kanal zwischen England und dem Kontinent eingefahren waren.
    Es war beinahe unerträglich, so nahe an der Insel vorüberzufahren, ohne sie ansteuern zu können. Nie hatte er sich so sehr nach seiner Heimat gesehnt. Er ertappte sich dabei, wie er geradezu lächerliche Erwartungen damit verband. Das ging so weit, dass er sich einzubilden begann, die Verwünschung, die auf ihm lag, würde von ihm abfallen, wenn er nur britischen Boden unter die Füße bekommen könnte …
    Mit einem beklommenen Gefühl in der Brust löste er sich von der Reling und überquerte das Deck. Die Gestalten, die ihm begegneten, wirkten in der Dämmerung noch beunruhigender als bei Tageslicht, denn die Sonne hatte ihnen viel von ihrer morbiden Ausstrahlung genommen. Sie hatten fahle, kranke Gesichter und allesamt lange, zottige Mähnen, als würden ihre Haare auch nach ihrem Tod immer weiterwachsen. Ihre Kleidung war die des 17. Jahrhunderts, weite, farblose Leinenhosen und Hemden, schwarze Lederwesten und feste, ausgetretene Schuhe, aus denen bisweilen rostige Nägel ragten. Ihre Bewegungen waren langsam, träge, wie die von Menschen, die lange nicht geschlafen hatten. Sir Darren sah nie einen von ihnen ausruhen – wenn sie gerade nichts zu tun hatten, gingen sie ziellos über das Deck, getrieben von einer inneren Kraft, die sie niemals zur Ruhe kommen ließ. Das schaurigste an ihnen aber war, dass sie niemals die Augen schlossen, nicht einmal, um zu blinzeln. Ihre Augen hatten dasselbe elektrische Glimmen an sich, das auch denen des Kapitäns anhaftete, und immerzu hielten sie die Lider geöffnet, als zwinge sie jemand dazu.
    Während Kapitän Fokke die englische Sprache beherrschte, verstanden die meisten aus seiner Crew nur Holländisch, was eine Verständigung unmöglich machte. Sie sprachen nicht viel untereinander, riefen sich nur ab und an ein paar Hinweise zu, die wohl ihre Arbeit betrafen. Sir Darren konnte kein einziges Mal beobachten, dass sie beieinander standen und ein Gespräch führten. Sie lachten nicht, und sie stritten nicht, sie machten keine Spiele. Er hätte sich gewünscht, sie einmal beim Armdrücken zu ertappen – es hätte sie und dieses Schiff so viel menschlicher und seine Situation so viel hoffnungsvoller gemacht. Doch der

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